Amalberga sah mich nachdenklich an, dann seufzte sie.
»Meine Liebe«, sagte sie, »du mußt einsehen, daß wir dich nicht gehen lassen können. Selbst wenn du niemanden aus unserem Volk heiraten willst, können wir es uns nicht leisten, dich freizulassen. Wir könnten die Hilfe deines Bruders benötigen.«
Ich erwiderte ihren Blick und wurde ebenfalls nachdenklich.
»Du glaubst, ich sollte heiraten, um nicht als Geisel benutzt werden zu können?« fragte ich. »Du glaubst, daß ich einen derartigen Schutz benötige? Würdet ihr mich töten oder foltern lassen, um von Theodoros irgendwelche Zugeständnisse zu erlangen?«
Sie wich meinem Blick aus. »Wir könnten gezwungen sein, dich gegen Getreide und nicht gegen Gold zu verkaufen«, antwortete sie einen Augenblick später. »Es gibt nicht mehr viel Lebensmittel nördlich der Hämusberge, und wenn die Beutezüge noch länger ausgesetzt werden, werden uns die Vorräte ausgehen. In Tomis gibt es jede Menge Getreide, und der Statthalter könnte uns etwas davon abgeben.«
»Und wenn mein Bruder mich nicht freiwillig kauft, dann würdet ihr mich foltern oder wenigstens damit drohen, um ihn dazu zu zwingen? Obwohl ihr mir gegenüber zur Gastfreundschaft verpflichtet seid und in meiner Blutschuld steht, da ich dich gesund gemacht habe?«
»Wenn die Leute erneut Hungersnot leiden, werden wir alles tun«, erwiderte sie und blickte mir in die Augen. »Es sei denn, du bist verheiratet und eine von uns.«
Ich stand auf. Ich brauchte ein wenig Bewegung, um mich zu beruhigen. Ob Amalberga die Wahrheit sagte? Oder versuchte sie nur, mir Angst zu machen, damit ich ihrem Manne gehorchte? Ich konnte nicht glauben, daß Frithigern mir wirklich etwas antun würde. Ich war sein Gast. Außerdem war ich ihnen in höchstem Grade nützlich, war ihnen allein aufgrund meiner medizinischen Fähigkeiten mehrere hundert Pfund in Gold wert.
Auf der anderen Seite ist Hunger wirklich etwas Schreckliches. Niemand kann sagen, was die Menschen tun oder nicht tun werden, wenn sie wirklich hungrig sind.
Aber die Tage des Hungers lagen noch weit entfernt, falls sie überhaupt drohten. Die Goten mochten bis zum Winter bereits eine vernichtende Niederlage erlitten haben. Dann war ich vielleicht bereits tot oder aber frei. Oder die Römer verloren die nächste Schlacht, und die Beutezüge würden genügend Lebensmittel einbringen. Und vielleicht wurde Thorion bald als Statthalter abgelöst, und es wäre zwecklos, mich länger als Geisel zu behalten, wenn ein Fremder über Skythien herrschte. Nein, ich vermochte die Drohung nicht ernst zu nehmen.
»Ihr werdet es nicht schaffen, mich gegen meinen Willen zu verheiraten«, erklärte ich und wandte mich erneut Amalberga zu. »Wenn ihr mich nicht nach Hause gehen lassen wollt, dann laßt alles so, wie es ist. Ich werde damit fortfahren, die Kranken zu behandeln und niemandem zu schaden – solange ihr mir meine Freiheit laßt.«
»Das einzige, was wir nicht können, ist, dir deine Freiheit zu lassen«, erwiderte die Königin traurig. »Aber laß es für den Augenblick gut sein. Wir können es uns erlauben, abzuwarten.«
19
Ich wünschte mir verzweifelt, mit Athanaric sprechen zu können, um herauszufinden, was bei den Römern los war und wie es meiner Familie und meinen Freunden ging. Aber als ich Amalberga bat, ein Zusammentreffen mit ihm zu ermöglichen, weigerte sie sich, und mir wurde klar, daß ich isoliert werden sollte, abgeschnitten von jedem, der mich in meinem Entschluß bestärken könnte. In jener Nacht wurden mir meine Schuhe und Gewänder fortgenommen, so daß ich nach Einbruch der Dunkelheit nicht hinausschlüpfen konnte, und am nächsten Morgen wurde ich von Wachsoldaten in das Hospital geleitet und wie ein Gefangener in Edicos Obhut übergeben. Edico machte einen verlegenen Eindruck.
»Ich wußte nicht, daß du eine Edelfrau bist«, sagte er. »Es tut mir leid, daß ich dich beleidigt habe, edle Charis.«
»Ach, sei doch still!« entgegnete ich ärgerlich. »Meine Familie ist nicht annähernd so bedeutend, wie jedermann hier zu glauben scheint; sie hat ganz einfach Geld. Das einzige, was mich beleidigt, ist, wenn ihr darauf besteht, mich die ganze Zeit über bewachen zu lassen.«
»Der König hat angeordnet, dir auf keinen Fall eine Gelegenheit zur Flucht zu geben«, meinte Edico und machte einen höchst unglücklichen Eindruck. »Es tut mir leid, aber ich muß darauf bestehen, daß ab sofort immer jemand bei dir ist.«
Ich verwünschte ihn leise und wandte mich ab, um einige Arzneimittel zuzubereiten. Das waren ja wirklich schöne Aussichten! Einer der Gehilfen kam zu meiner Bewachung; ich zog ihn gleich zur Arbeit heran, ließ ihn die Alraunwurzel zerreiben und fragte mich, wie das Ganze enden sollte. Gegen Ende des Vormittags ging ich, um nach meiner Patientin mit dem Kaiserschnitt zu sehen. Ich hatte sie bei sich zu Hause behandelt. Die Hebamme begleitete mich. Ich ging sehr schnell und blickte mich überall im Lager aufmerksam um, und die Hebamme mußte rennen, um Schritt mit mir zu halten. Vor dem Wagen der Frau fiel ich beinahe über Athanaric. Er saß in aller Ruhe beim nächstgelegenen Brunnen, schärfte sein Schwert, und sah von Kopf bis Fuß gotisch aus. Ich blieb unvermittelt stehen und sah ihn an. Er blickte schnell zu dem Wagen und schüttelte den Kopf. Ich begriff, was er damit sagen wollte, und tat so, als wartete ich nur darauf, daß die Hebamme mich einholte, dann betrat ich den Wagen.
Die Kindsmutter schien sich gut zu erholen. Ich verband die Wunde eigenhändig, dann schickte ich die Hebamme fort, um noch ein anderes Arzneimittel zu holen, das ich angeblich vergessen hatte. Sie ging los, und ich tat so, als hätte ich das Arzneimittel nun doch gefunden. Ich flößte der Frau etwas davon ein, dann trat ich ohne Begleitung ins Freie. Dort wartete Athanaric auf mich.
Ich eilte zu ihm; er ergriff meinen Arm und zog mich zur Seite. »Hier!« sagte er und deutete auf einen Platz unter dem nächststehenden Wagen. Ich kroch darunter, und er folgte mir. Wir waren außer Sicht und so allein, wie man in dieser übervölkerten Stadt nur sein konnte. »Wird die Frau zurückkommen?« fragte Athanaric.
»Ich habe sie fortgeschickt, um ein Arzneimittel zu holen«, antwortete ich. »Sie wird wahrscheinlich annehmen, daß sie mich auf dem Weg hierher verpaßt hat und zum Hospital zurückgehen. Wir haben etwa eine halbe Stunde Zeit, bevor sie anfangen, nach mir zu suchen.«
Athanaric seufzte und rieb sich die Stirn. »Werden sie denn nach dir suchen?«
»Sie haben gerade den strikten Befehl erhalten, mich ununterbrochen zu bewachen, damit ich nicht fliehen kann.«
»Aber du brauchtest gar nicht bewacht zu werden«, meinte er bitter. »Du kannst sowieso nicht fliehen. Im Augenblick jedenfalls nicht. Sämtliche Soldaten, die sonst auf den Beutezügen sind, befinden sich derzeit hier, und die Hälfte davon kennen mich, und allesamt scheinen sie dich zu kennen. Ich könnte dich niemals hier herausbekommen. Aber ich mußte unbedingt mit dir sprechen.«
Im Halbdunkel unter dem Wagen blickten seine Augen aufmerksam und ernst. Er sprach in seinem schnellen, abgehackten Griechisch, und er sprach mit gedämpfter Stimme, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich fühlte einen Kloß in meiner Kehle und schluckte angestrengt. »Schön, daß du gekommen bist«, flüsterte ich. »Ich brauche… ich fühle mich sehr alleine hier. Amalberga meint, ich sollte jemanden heiraten, um nicht als Geisel benutzt werden zu können.«
»Tu das nicht«, sagte Athanaric. »Sie würden es nicht wagen, dir etwas anzutun. Dein Bruder wird noch in diesem Herbst aus Tomis fortgehen; ihm ist für sofort eine andere Statthalterschaft angeboten worden, und zwar in Bithynien. Als Geisel nutzt du ihnen sowieso nichts. Würdest du wirklich jeden Goten töten, der versucht, dich zu heiraten?«
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