«Man kann doch mit einer Axt nichts gegen eine Kanone ausrichten!», sagte Tom Scarlet verächtlich. Der überlebende Franzose stöhnte.
«Jemand verletzt?», fragte Hook.
«Ich habe mir den Knöchel verrenkt», sagte Horrocks. Er humpelte, und in seinen Augen stand Verwunderung oder Angst.
«Das wird wieder», sagte Hook kurz angebunden. «Sind alle da?»Seine Männer waren vollständig, und Will of the Dale rannte mit Melisande und seinen sechs Bogenschützen am Graben entlang. Der verwundete Franzose wimmerte und zog die Beine an den Körper. Er hatte bis auf ein gepolstertes Kettenhemd keine Rüstung getragen, und Will Sclate hatte ihm die Axt tief in den Brustkorb gerammt, sodass die Leinenpolsterung des Kettenhemdes herausgequollen war und sich mit Blut vollgesogen hatte. Hook warf einen Blick auf die Masse aus Lunge und gesplitterten Rippenknochen. Blut lief Blasen werfend aus dem Mund des Mannes, wenn er stöhnte. «Erlöst ihn von diesem Elend», verlangte Hook, doch seine Bogenschützen starrten ihn einfach nur an. «Also gut», sagte Hook. Er stieg über einen Leichnam hinweg, stellte die Spitze der Kampfaxt auf die Kehle des Verwundeten, stieß einmal zu und erledigte die Aufgabe damit selbst.
Will of the Dale starrte auf das Blutbad in der Grube hinunter. «Das war das letzte Mal, dass diese dummen Bastarde so etwas versucht haben!», sagte er. Er wollte unbeschwert klingen, indem er Sir John nachahmte, doch ein schriller Ton schwang in seiner Stimme mit, und in seinen Augen flackerte das Grauen.
Melisande stand dicht hinter Will. Schweigend betrachtete sie den toten Franzosen, der neben Hooks tropfender Kampfaxt lag. Dann hob sie den Blick und sah ihn an. «Du solltest nicht hier sein», sagte er schroff.
«Ich kann nicht im Lager bleiben», sagte sie. «Dieser Priester könnte kommen.»
«Wir passen auf sie auf», sagte Will of the Dale, die Stimme immer noch verzerrt. Er trat einen Schritt vor und hob eine der zu Boden gefallenen Fackeln auf, auch wenn inzwischen genügend Tageslicht von Osten kam, um die Fackeln überflüssig zu machen. «Seht euch an, was sie getan haben», sagte er.
Die Franzosen hatten mit ihrer großen Axt die ringförmigen Eisenbänder durchgehackt, die um das Rohr des «Erlösers»gelaufen waren. Hook hatte diesen Schaden noch nicht wahrgenommen, doch nun sah er, dass zwei der Metallringe glatt durchgehauen worden waren, was bedeutete, dass die Kanone vermutlich nicht mehr zu gebrauchen war. Wenn sie abgefeuert würde, würde sich das Rohr ausdehnen, bersten und jeden Mann in der Grube töten. «Durchsucht die Bastarde», befahl er seinen Leuten. Drei Bogenschützen hatten schon die anderen französischen Opfer nach Beute durchsucht und Silberketten, Münzen, Broschen und einen Dolch mit juwelenbesetztem Griff gefunden. Die Kostbarkeiten waren in einer Pfeiltasche gesammelt worden, und nun kamen weitere Reichtümer hinzu. «Wir teilen es später auf», verkündete Hook. «Und jetzt los, raus hier! Bogen!»
Sein Bogen war bei dem Sturz nicht beschädigt worden. Er nahm ihn in die Linke, hängte sich die Kampfaxt über die Schulter und legte einen Pfeil über den Bogenschaft. Dann stieg er aus der Grube und blickte in einen grauen Morgenhimmel, über den schwarze Rauchwolken zogen.
Vor ihm wütete rund um die Sau und die Grube mit der «Königstochter»der Kampf. Die Franzosen hatten beides erobert, doch immer mehr Engländer waren aus dem Lager geströmt. Inzwischen übertraf ihre Zahl den französischen Stoßtrupp bei weitem, und sie drängten ihn unerbittlich zurück. Dann wurden Trompeten geblasen, das Zeichen für die Franzosen, den Kampf abzubrechen und sich nach Harfleur zurückzuziehen. Flammen leckten an den schweren Balken der Sau und an dem schwenkbaren Schutzschirm der Kanone. Feldkämpfer hackten aufeinander ein, ihre Klingen blitzten im Licht, während sie zustießen. Hook suchte nach Sir Johns Banner mit dem aufsteigenden Löwen und entdeckte es zu seiner Linken. Sir Johns Männer kämpften im Hauptgraben und trieben eine große Gruppe Franzosen zurück, die jetzt den linken Flügel der Angreifer bildete. «Bogen!», rief Hook.
Er zog die Sehne bis zu seinem rechten Ohr zurück. Die Franzosen hatten schon den Befehl zum Rückzug in die Stadt erhalten, doch sie wagten sich nicht umzudrehen, weil sie die englischen Verfolger fürchteten. Also kämpften sie unablässig, um Sir Johns Männer in den Graben zurückzutreiben. Sie waren halb von Hook abgewandt und ahnten nicht, dass er ihre Flanke bedrohte. «Zielt genau», rief Hook. Dann gab er die Sehne frei und zog die nächste Ahlspitze aus der Tasche. Die Sehne für diesen Pfeil war erst halb gespannt, als der erste schon in den Rücken eines Feindes fuhr. Hook zog die Sehne wieder ganz zurück, sah, wie sich ein Franzose nach ihnen umsah, gab die Sehne frei, und der Pfeil traf den Mann im Gesicht. Und dann war der Feind plötzlich in Bewegung. Der unerwartete Angriff von der Flanke aus schlug die Männer in die Flucht.
Ein Armbrustbolzen zuckte an Hook vorbei. Ein Springarden-Bolzen, viel größer, ließ Erde emporspritzen, und zugleich feuerte eine Kanone aus Harfleur. Der Stein schlug kurz hinter den Bogenschützen ein, und immer mehr Bolzen zischten durch die rauchgeschwängerte Luft. Die Armbrustbolzen machten ein flatterndes Geräusch. Hook vermutete, dass ihre lederne Befiederung zerdrückt war, vielleicht waren sie schlecht gelagert gewesen. Mit den Bolzen konnte der Feind also nicht genau zielen, aber sie waren dennoch gefährlich nahe. Hook sah zur Barbakane hinüber und entdeckte Armbrustschützen, die von ihrer Brustwehr aus auf sie zielten. Er drehte sich um, schoss einen Pfeil in ihre Richtung und rief seinen Männern zu: «Aufhören zu schießen! Geht zum Graben!»
Die Franzosen zogen sich jetzt eilig zurück, doch sie hatten ihr Ziel erreicht: Die Belagerungsanlagen waren beschädigt. Drei der Kanonen einschließlich der «Königstochter»würden nie mehr feuern, und die gesamte Grabenlinie entlang waren Brustwehre niedergerissen und Männer getötet worden. Und jetzt verhöhnten die Verteidiger von den zertrümmerten Mauern aus die Engländer, während der zurückkehrende Stoßtrupp den tiefen Wassergraben vor der eingebrochenen Barbakane hinter sich brachte. Noch immer wurden die Franzosen mit Pfeilen beschossen, und einige Männer rutschten tödlich getroffen in den Graben, doch der Ausfall war erfolgreich gewesen. An der englischen Belagerungsanlage brannte es.
«Bastarde», knurrte Sir John wiederholt. «Sie haben uns im Schlaf überrascht, die Bastarde!»
«Der Savage konnten sie nichts anhaben», berichtete Hook ungerührt, «aber der ist zerstört.»
«Wir kriegen sie, die gottverdammten Bastarde!», presste Sir John zwischen den Zähnen hervor.
«Und keiner von uns wurde verletzt», fügte Hook hinzu.
«Aber wir werden sie noch verletzen, bei Gott, das werden wir», schwor Sir John. Seine Miene war wutverzerrt. Es reichte schon aus, dass die Belagerung nicht weiterkam, und nun hatte der Feind den englischen Hoffnungen auch noch einen weiteren schweren Schlag versetzt. Sir John überlief ein Schauer, als ein feindlicher Feldkämpfer, der gefangen genommen worden war, durch den Graben geführt wurde. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er seinen Zorn auf diesem Unglückseligen entladen, doch dann entdeckte er Melisande und ließ seine Unzufriedenheit an ihr aus. «Was zum Teufel hat sie hier zu suchen?», wollte er von Hook wissen. «Bei Gott, bist du denn von Sinnen? Kannst du es nicht eine einzige Minute ohne deine Frau aushalten?»
«Nick ist nicht schuld!», rief Melisande trotzig aus. Sie hielt immer noch die Armbrust, auch wenn sie nicht damit geschossen hatte. «Nick ist nicht schuld», wiederholte sie, «er hat mir sogar gesagt, dass ich weggehen soll.»
Sir Johns Galanterie gegenüber Frauen war stärker als sein Ärger. Er knurrte etwas, das man für eine Entschuldigung halten konnte, und dann erklärte Melisande ihr Verhalten in schnellem Französisch. Sie deutete zum Lager hinüber, und während sie sprach, flammte in Sir Johns Miene neuer Zorn auf. Er wandte sich an Hook. «Warum hast du mir nichts davon gesagt?»
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