Hook öffnete die Augen. Es war noch dunkel. «Tom?», rief er, doch Evelgold war schon weitergegangen, um die anderen Bogenschützen zu wecken.
Eine zweite Stimme rief die Männer zur Versammlung. «Rüstung! Bewaffnung! Schnell! Sofort! Gottverdammt, ich will euch alle jetzt sofort hier haben!»
«Was ist?», fragte Melisande.
«Weiß nicht», sagte Hook. Er tastete nach seinem Kettenhemd. Der Gestank des Lederfutters war überwältigend, als er es über den Kopf zog. Er zerrte das unhandliche Hemd vor seiner Brust herunter. «Wo ist mein Schwertgürtel?»
«Hier.»Melisande hatte sich hingekniet. Die Lagerfeuer waren wieder entfacht worden, und ihre Flammen spiegelten sich in Melisandes weit aufgerissenen Augen.
Hook legte den Wappenrock mit dem Sankt-Georgs-Kreuz an, dem Wappen, das jeder Mann der Belagerungstruppe tragen musste. Dann zog er seine Stiefel an, diese einstmals guten Stiefel, die er sich in Soissons gekauft hatte, deren Nähte sich nun aber aufzulösen begannen. Er schloss den Gürtel, ließ den Bogen aus der Hülle gleiten und griff nach einer Pfeiltasche. An die Kampfaxt hatte er einen langen Lederstreifen geknotet, an dem er sie nun über seine Schulter hängte. Dann duckte er sich in die Nacht hinaus. «Ich komme zurück», rief er Melisande zu.
« Casque !», rief sie hinter ihm her. « Casque !»Er drehte noch einmal um und ließ sich von ihr den Helm reichen. Mit einem Mal hatte er das Bedürfnis, ihr zu sagen, dass er sie liebte, doch Melisande war schon wieder im Unterstand verschwunden, und so sagte Hook nichts. Er spürte, dass die Nacht kurz vor ihrem Ende stand. Die Sterne waren blass, und das bedeutete, dass die Dämmerung bald den Himmel über der widerspenstigen Stadt hell färben würde. Vor ihm herrschte Aufruhr. Die Flammen in den Belagerungsanlagen schlugen hoch und warfen groteske Schatten auf das aufgewühlte Erdreich.
«Kommt zu mir! Kommt zu mir!», rief Sir John neben dem größten Lagerfeuer. Die Bogenschützen waren sofort bei ihm, während die Feldkämpfer, die mehr Zeit brauchten, um ihre Panzerrüstungen anzuschnallen, etwas später kamen. Sir John hatte sich entschlossen, auf seine kostspielige Panzerrüstung zu verzichten, und war ebenso wie die Bogenschützen in Kettenhemd und Polsterwams gekleidet. «Evelgold! Hook! Magot! Candeler! Brutte!», rief Sir John. Walter Magot, Piers Candeler und Thomas Brutte waren die drei anderen Ventenare.
«Hier, Sir John!», meldete Evelgold.
«Die Bastarde haben einen Ausfall gemacht», sagte Sir John ernst. Das erklärte die Rufe und das Geräusch sich kreuzender Stahlklingen an den vorderen Gräben. Harfleurs Garnison hatte einen Ausbruch gewagt, um die Sau und die Kanonengruben anzugreifen. «Wir müssen die Bastarde töten», sagte Sir John. «Wir greifen gleich in Richtung Sau an. Jedenfalls ein Teil von uns. Du nicht, Hook. Du weißt, wo die Savage steht?»
«Ja, Sir John», sagte Hook und rückte die Schließe seines Schwertgürtels zurecht. Die Savage war ein Katapult, ein großes hölzernes Monstrum, mit dem Steine auf Harfleur geschleudert wurden, und sie stand am rechten Ende der englischen Linie als letztes der Belagerungsgeräte dicht am Meer.
«Bring deine Männer dorthin», sagte Sir John, «und dann arbeitest du dich zur Sau vor. Verstanden?»
«Ja, Sir John», sagte Hook erneut. Er bespannte den Bogen, indem er ein Ende auf dem Boden abstützte, sodass er die Sehnenschlinge über die obere Kerbe ziehen konnte.
«Dann geh! Geh jetzt!», knurrte Sir John. «Und töte die Bastarde.»Er wandte sich um. «Wo ist mein Banner? Ich will mein Banner! Bringt mir sofort mein gottverdammtes Banner!»
Hook führte sechzehn Männer. Es hätten dreiundzwanzig sein sollen, doch sieben waren krank oder tot. Er fragte sich, wie sich siebzehn Männer durch Gräben und Kanonengruben kämpfen sollten, wenn der Feind zum Angriff aus dem Leure-Tor schwärmte. Es war offensichtlich, dass die Franzosen schon lange Abschnitte der Belagerungsanlage besetzt hatten, denn während Hook seine Männer in südliche Richtung führte, sah er noch mehr Feuer in den englischen Kanonengruben auflodern, vor denen Männer wie schwarze Umrisse umherhasteten. Gruppen von Feldkämpfern und Bognern kreuzten Hooks Weg, alle liefen in Richtung des Kampfes. Hook hörte das Klirren von Schwertern.
«Was machen wir, Nick?», fragte Will of the Dale.
«Du hast gehört, was Sir John gesagt hat: Fangt an der Sa-vage an und arbeitet euch heran», sagte Hook. Er war überrascht, wie selbstbewusst er klang. Sir Johns Befehle waren unklar gewesen und hastig erteilt worden, und Hook hatte einfach gehorcht, indem er seine Männer zur Savage führte, doch erst jetzt überlegte er, was von ihm erwartet wurde. Sir John sammelte seine Feldkämpfer und hatte die meisten Bogenschützen bei sich behalten. Vermutlich wollte er bei der Sau angreifen, die dem Feind in die Hände gefallen zu sein schien, doch warum hatte er Hook allein losgeschickt? Weil, beschloss Hook, Sir John Flankendeckung brauchte. Sir John und seine Männer waren die Treiber, und sie würden Hook die Beute geradewegs vor die Bögen hetzen, sodass sie nur noch schießen mussten. Als Hook die Einfachheit dieses Plans aufging, erfüllte ihn Stolz. Sir John hätte seinen Centenar Tom Evelgold schicken können oder einen der anderen Ventenare, die alle älter und erfahrener waren, doch Sir John hatte ihn ausgewählt.
Bei der Savage brannten Feuer, aber sie waren nicht von den Franzosen entzündet worden. Es waren die Lagerfeuer der Männer, die zur Bewachung der Katapult-Grube abgestellt waren. Die Flammen beleuchteten das hoch aufragende, unheimliche Balkenwerk der enormen Maschine. Ein Dutzend Bogenschützen, die über Nacht zum Wachdienst eingeteilt waren, hielten ihre Bögen zum Schießen bereit, und als sie Männer über die Schräge in die Grube kommen sahen, richteten sie ihre Bögen auf Hook. «Sankt Georg!», rief Hook. «Sankt Georg!»
Die Bögen wurden gesenkt. Die Wächter waren unruhig. «Was geht vor ?», fragte einer von ihnen.
«Die Franzosen haben einen Ausfall gemacht.»
«Ich weiß, aber was geht genau vor ?»
«Das weiß ich nicht!», schnauzte Hook und drehte sich weg, um seine Männer zu zählen. Er tat es auf Bauernart, wie ein Schäfer, der seine Herde zählte, genau wie sein Vater es ihm beigebracht hatte. Yain, tain, eddero, zählte er und kam zu bumfit, was fünfzehn bedeutete, also sah er nach dem fehlenden Mann, hatte jedoch zwei vor sich. Tain-o-bumfit? Dann fiel ihm auf, dass der siebzehnte Mann sehr klein und schlank war und eine zierliche Armbrust trug. «Zum Teufel, geh zurück, geh wieder zurück!», rief er. Und dann vergaß er Melisande wieder, weil Tom Scarlet eine Warnung brüllte. Hook fuhr herum und sah eine Gruppe Männer durch den breiten Graben in Richtung der Savage rennen, der sich von der nächsten Kanonengrube aus zu dem Katapult wand. Einige der herankommenden Männer hatten Fackeln bei sich, die einen Funkenschleier hinter sich herzogen, und die hellen Flammen spiegelten sich in Helmen, Schwertern und Äxten.
«Keine Kreuze!», rief Tom Scarlet warnend und meinte damit, dass keiner der Männer im Graben das Sankt-Georgs-Kreuz trug. Es waren Franzosen, und als sie die Bogenschützen im Licht der Lagerfeuer in der Savage-Grube vor sich sahen, begannen sie herausfordernd zu brüllen. «Sankt Denis! Harfleur!»
«Bögen!», schrie Hook, und seine Männer fächerten sich zu einer Linie auf. «Tötet sie!», rief er.
Die Entfernung war kurz, weniger als fünfzig Schritt, und die Angreifer hatten sich zu leichten Zielen gemacht, indem sie durch den Graben liefen, dessen Wände sie nun einengten. Die ersten Pfeile bohrten sich in sie, und der dumpfe Ton, mit dem die Breitköpfe auftrafen, brachte die Rufe des Feindes augenblicklich zum Verklingen. Das Geräusch der Bögen war scharf, jedes Freigeben der Sehne wurde von einem kurzen Flattern gefolgt, wenn die Federn durch die Luft sirrten. Die Federn schnellten als weißes Zucken durch die Dunkelheit, das abrupt gestoppt wurde, wenn die Pfeile auftrafen. Hook erschien es so, als habe sich die Zeit verlangsamt. Er zog Pfeile aus seiner Tasche, legte sie über den Bogenschaft, hob den Bogen, spannte die Sehne, gab sie frei, und er empfand keine Erregung, keine Angst und kein Hochgefühl. Schon bevor er einen Pfeil auch nur aus der Tasche zog, wusste er genau, wohin er fliegen würde. Er zielte auf die Bäuche der heranstürmenden Männer und sah sie im Licht der Flammen taumeln und fallen, wenn seine Pfeile sie trafen.
Читать дальше