«Wie über alle anderen auch.»
«Im Innersten ist er ein freundlicher Mann», sagte Melisande und lehnte sich dann zurück, damit sie ihren Kopf an Hooks Brust legen konnte. Im Stehen reichte sie ihm kaum bis an die Schulter. Hook liebte ihre Zartheit, auch wenn er inzwischen gelernt hatte, dass ihre zierliche Erscheinung trügerisch war, denn Melisande besaß die geschmeidige Stärke eines Bogenschaftes, und wie ein Bogen, der sich nach seiner Bespannung gekrümmt hatte und diese Krümmung auch beibehielt, wenn die Sehne ausgehängt war, verteidigte sie ihre Ansichten mit aller Kraft. Er liebte das an ihr. Aber er hatte auch Angst um Melisande.
«Vielleicht hättest du nicht mitkommen sollen», sagte Hook.
«Warum? Weil es gefährlich ist?»
«Ja.»
Melisande zuckte mit den Schultern. «Für Franzosen ist es in Frankreich sicherer als für Engländer, glaube ich. Wenn sie Alica oder Matilda gefangen nehmen, werden sie geschändet.» Alica und Matilda waren ihre Freundinnen.
«Und du nicht?»
Melisande schwieg einen Moment lang, vielleicht dachte sie an Soissons. «Ich wollte mitkommen», sagte sie schließlich.
«Warum?»
«Um bei dir zu sein», sagte sie, und ganz selbstverständlich setzte sie hinzu: «Was ist ein Centenar?»
«Einer wie Peter Goddington? Das ist einfach ein Mann, der Bogenschützen anführt.»
«Und ein Ventenar?»
«Also, ein Centenar führt sehr viele Bogenschützen an, ungefähr einhundert. Und ein Ventenar ist für vielleicht zwanzig verantwortlich. Und alle beide sind Sergeants.»
Melisande dachte ein paar Momente über diese Worte nach. «Du solltest ein Ventenar sein, Nick.»
Hook lächelte, sagte aber nichts. Das Wasser des Flusses glitt kristallklar über sein sandiges Bett, an dem Hahnenfuß und Schaumkraut träge im Wind schaukelten. Eintagsfliegen tanzten über dem Wasserspiegel, und von Zeit zu Zeit sprang eine Forelle aus dem Fluss, um nach ihnen zu schnappen. Zwei Schwäne mit vier Küken schwammen am anderen Ufer entlang, und während Hook sie beobachtete, bemerkte er vor sich einen Schatten im Wasser. «Nicht bewegen», ermahnte er Melisande und zog langsam die Bogentasche von seiner Schulter herunter.
«Sir John kennt meinen Vater», sagte Melisande unvermittelt.
«Wirklich?», fragte Hook überrascht. Er schnürte die Ledertasche auf und nahm mit ruhigen Bewegungen den Bogen heraus.
«Ghillebert.» Melisande sprach den Namen langsam aus, als ob sie ihn gerade zum ersten Mal gehört hätte, «der Seigneur de Lanferelle.»
Pater Michel, bei dem sie in Frankreich gewohnt hatten, hatte gesagt, Melisandes Vater sei Seigneur d'Enfer, doch Hook vermutete, dass er sich verhört hatte. «Also ist er ein Lord, was?», bemerkte er.
«Adlige haben viele Kinder», sagte Melisande, «et je suis une bâtarde.»
Hook sagte nichts. Er stützte den Bogenschaft an dem Stamm einer Esche ab und bog ihn, um die Sehnenschlinge über die obere Nocke zu ziehen.
«Ich bin ein Bastard», sagte Melisande bitter. «Deshalb hat er mich ins Kloster geschickt.»
«Um dich zu verstecken.»
«Und um mich zu schützen, glaube ich», sagte Melisande. «Er hat der Äbtissin Geld gegeben. Er hat für mein Essen und mein Bett bezahlt. Er hat gesagt, dort wäre ich sicher.»
«Sicher, um eine Dienstmagd zu werden?»
«Meine Mutter war auch eine Dienstmagd. Warum sollte ich also keine werden? Und eines Tages wäre ich Nonne geworden.»
«Du bist kein Dienstmädchen», sagte Hook, «du bist die Tochter eines Adligen.» Er nahm einen Pfeil aus der Tasche, eine Ahlspitze mit einem schmal zulaufenden, scharfen und schweren Kopf. Er hielt den Bogen waagerecht über seinen Beinen, legte den Pfeil auf den Schaft und ließ das eingekerbte, befiederte Ende auf die Bogensehne gleiten. Der Schatten rührte sich. «Wie gut kennst du deinen Vater?», fragte Hook.
«Ich habe ihn nur zwei Mal gesehen», sagte Melisande. «Das erste Mal war ich noch sehr klein, und ich erinnere mich kaum daran, und dann noch ein Mal, bevor ich ins Kloster kam. Ich mochte ihn.» Sie hielt inne, um nach den richtigen englischen Wörtern zu suchen. «Am Anfang, da mochte ich ihn.»
«Und mochte er dich auch?», fragte Hook, ohne nachzudenken, denn er hatte seine Aufmerksamkeit eher auf den Schatten gerichtet als auf Melisande. Er spannte den Bogen, den er immer noch waagerecht hielt, weil er vermeiden wollte, dass der Schatten stromaufwärts verschwand, wenn er ihn aufrichtete.
«Er war so», sie unterbrach sich, suchte nach dem Wort, «beau. Er war groß. Und er hatte ein schönes Wappen. Eine große gelbe Sonne mit goldenen Strahlen. Und über der Sonne ist der Kopf eines ...»
«Adlers», unterbrach sie Hook.
«Un faucon» , sagte Melisande.
«Also ein Falke», sagte Hook und erinnerte sich an den langhaarigen Mann, der auf dem Platz vor der Kirche Saint-Antoine-Le-Petit zugesehen hatte, wie die Bogenschützen umgebracht wurden. «Er war in Soissons», fuhr er fort. Er hielt inne, den Bogen halb gespannt. Der Schatten bewegte sich, und Hook dachte, er würde stromabwärts verschwinden, doch dann glitt er zur anderen Uferseite hinüber.
Melisande starrte in Hooks Gesicht hinauf. «Er war dort?»
«Langes schwarzes Haar», sagte Hook.
«Ich habe ihn nicht gesehen!»
«Du hattest fast die ganze Zeit deinen Kopf in meine Schulter vergraben», sagte Hook. «Du wolltest es nicht sehen. Sie haben die Männer gefoltert. Ihnen die Augen ausgestochen. Sie herausgeschnitten.»
Melisande verharrte schweigend. Hook hob den Bogen etwas, dann sprach sie erneut, doch ihre Stimme war leise. «Mein Vater wird noch anders genannt», sagte sie, «der Seigneur d'Enfer.»
«Das ist der Name, den ich gehört habe», sagte Hook.
«Der Seigneur d'Enfer», wiederholte Melisande. «Der Herr der Hölle. Das kommt daher, dass Lanferelle so ähnlich klingt wie l'enfer , und l'enfer bedeutet Hölle. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass er im Kampf so erbarmungslos ist. Er hat viele Männer in die Hölle geschickt, glaube ich. Und manche in den Himmel.»
Schwalben jagten über dem Fluss umher, und aus dem Augenwinkel sah Hook das blaue Aufblitzen eines Eisvogels im Flug. Der Schatten stand wieder still. Hook zog die Sehne weiter zurück, konnte sie jedoch nicht ganz spannen, weil Melisandes schlanker Körper im Weg war, doch auch halb gespannt war der große Kriegsbogen eine schreckliche Waffe.
«Er ist kein schlechter Mann», sagte Melisande, als wolle sie sich selbst überzeugen.
«Du klingst aber nicht sehr sicher», erwiderte Hook.
«Er ist mein Vater.»
«Der dich in ein Nonnenkloster gesteckt hat.»
«Ich wollte nicht hin!», sagte sie erbittert. «Ich habe es ihm gesagt! Nein! Nein!»
Hook lächelte. «Du wolltest also keine Nonne werden, was?»
«Ich kannte die Schwestern. Meine Mutter hatte mich mitgenommen, wenn sie die Nonnen besucht hat. Wir haben ihnen», sie hielt inne und suchte vergeblich nach den englischen Worten, «les prunes de damas, abricots et coings gegeben.» Sie zuckte mit den Schultern. «Ich weiß nicht, wie das heißt. Wir haben den Schwestern Früchte gebracht, aber sie waren trotzdem niemals freundlich zu uns. Sie waren abscheulich.»
«Dennoch hat dich dein Vater zu ihnen geschickt.»
«Er hat gesagt, ich soll für ihn beten. Das war meine Aufgabe. Aber weißt du, worum ich stattdessen gebetet habe? Ich habe darum gebetet, dass er eines Tages wiederkommen würde», sagte sie sehnsüchtig, «dass er auf seinem großen Pferd durch den Klostergarten reiten und mich mitnehmen würde.»
«Willst du deshalb nach Frankreich?»
Sie schüttelte den Kopf. «Ich will bei dir sein.»
«Deinem Vater würde ich nicht gefallen.»
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