»Das stimmt.«
»Hat er dir irgend etwas verschrieben?«
»Ein Sellerietonikum, aber das war schon vor – ach, vor einer Ewigkeit. Das alles liegt so weit zurück, daß ich mich kaum noch erinnern kann, aber ich weiß, daß ich es nur während einigen Wochen eingenommen habe.«
»Und seither hast du nichts anderes genommen?«
»Nichts.«
»Nun, ich freue mich darüber, daß es dir wieder besser geht, was auch immer der Grund sein mag. Es war ein harter Tag, eine harte Zeit, aber nun ist alles vorbei.«
Als er vorhin mit ihr gesprochen hatte, hatte er kurz erzählt, was unterdessen alles mit Billy und Charles geschehen war. Sie war zwar bestürzt über das Verhalten von Forbes, aber kaum überrascht. Orry hatte ihr noch nicht gesagt, daß er Ashton und ihren Mann zum Teufel geschickt hatte. Und was den Brief an Justin betraf, so würde er das wohl besser für sich behalten, zumindest bis er wußte, ob der Brief seine Wirkung nicht verfehlt hatte.
Medizin. Das Wort löste einen neuen und verblüffenden Gedankengang in Madeline aus. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie oft ihr Essen einen merkwürdigen Geschmack gehabt hatte. Es war viele Male vorgekommen. Aber sie war nie klug oder raffiniert genug gewesen, um ihren Mann zu verdächtigen. Wäre es möglich, daß man dem Essen ein Medikament beigemischt hatte, um sie zu beruhigen? So erschreckend der Gedanke war – Justin war dies zuzutrauen, obschon sie wohl nie einen Beweis dafür haben würde. Aber immerhin, es erklärte die langen Monate ihrer Lethargie und Gleichgültigkeit.
»Madeline?«
Mit seiner sanften, besorgten Stimme unterbrach er ihre Überlegungen. Sie wandte sich ihm zu.
»Du sahst eben so verängstigt aus. Woran hast du gedacht?«
»Ich habe über Justin nachgedacht. Was, glaubst du, wird er unternehmen, nachdem ich ihn verlassen habe?«
»Vermutlich nichts.«
Sie durchquerte die Halle. »Ich werde nie mehr zurückgehen.«
Er folgte ihr und öffnete die Tür. »Das macht mich sehr glücklich.« Er ließ die Klinke los und sah sie an. Seine Stimme verriet seine Sehnsucht, als er sagte: »Ich wäre noch glücklicher, wenn du bei mir bleiben würdest.«
Sie starrte in den Regen hinaus. »Ich freue mich, daß du das sagst, Liebster, aber bist du ganz sicher, daß du einen Skandal in Kauf nehmen willst?«
Er stand hinter ihr und lachte. »Was ist schon ein kleiner Skandal, wenn die ganze Welt dabei ist, den Verstand zu verlieren?« Mit seiner rechten Hand umschloß er ihre Schulter. »Ich würde die Hölle für dich in Kauf nehmen, Madeline. Weißt du das nicht?«
Sie drückte seine Hand mit ihrer Linken. »Ich rede nicht vom Klatsch über einen Ehebruch.«
»Wovon denn?«
Sie wandte sich um und holte tief Atem. »Ich rede von etwas, das niemand weiß, mit Ausnahme einiger Menschen in New Orleans, die jetzt schon sehr alt sind.«
Sie betrachtete sein blasses, müdes Gesicht. In Anbetracht all dessen, was heute vorgefallen war, durfte sie ihm diese Tatsache nicht verheimlichen.
»Meine Urgroßmutter ist mit einem Sklavenschiff von Afrika nach New Orleans gekommen. Ich habe ein Achtel Negerblut. Und du weißt sehr gut, was das in diesen Breitengraden bedeutet.« Sie hielt ihm ihre weiße Hand vors Gesicht. »In den Augen der meisten Leute ist meine Haut so gut wie kohlrabenschwarz.«
Die Eröffnung machte ihn einen Augenblick sprachlos. Und doch, verglichen mit allen anderen Schocks, die er heute erlitten hatte, konnte es ihn nicht erschüttern. Er fuhr ihr sanft mit der Handfläche über die Wange und flüsterte:
»Ist das alles, was du mir sagen mußt?«
»Nicht ganz. Aufgrund ihrer Herkunft durfte meine Mutter nur auf eine Art mit weißen Männern verkehren. Sie hatte nur diese eine Möglichkeit, um sich emporzuarbeiten. Sie war eine Prostituierte. Mein Vater fand sie in einem Bordell in New Orleans, aber er liebte sie genug, um sie dort herauszuholen und zu heiraten – trotz allem, was er über sie wußte.«
»Madeline, ich liebe dich ebenso.«
»Ich möchte nicht, daß du das Gefühl hast, du müßtest – «
»Ebensosehr«, wiederholte er und neigte sich zu ihrem Mund hinunter.
Ihr Kuß war scheu. Nachdem sie sich während so vieler Monate nicht mehr gesehen hatten, waren sie einander fremd geworden. Doch die Gefühle, die er so lange eingedämmt hatte, stiegen bald wieder hoch.
Sie lehnte sich zurück und umschloß seinen Nacken mit ihren Händen. Der Wind trieb Regentropfen in die Halle, und sie glitzerten nun auf ihrer Stirn und in seinem Bart. »Natürlich«, Hoffnung schimmerte jetzt in ihren Augen, »sind die Chancen, daß das Geheimnis jemals ans Tageslicht kommen wird, gering. Die wenigen Menschen, die etwas wissen, sind sehr alt und sehr weit weg.«
Wieder küßte er sie. »Das ist mir egal, verstehst du? Es ist mir egal.«
Mit einem leisen Aufschrei drückte sie sich an ihn. »O mein Gott, ich liebe dich schon so lange.«
Er spürte ihren Körper dicht an dem seinen, ihre Brüste und Hüften. Der Wind blies ihm ihr Haar ins Gesicht. »Ich liebe dich auch.«
»Bring mich nach oben.«
»Madeline, bist du sicher?«
Sie unterbrach ihn mit einem Kuß. »Wir haben beide viel zu lange gewartet, Orry.« Sie küßte ihn erneut, inbrünstig. »Viel zu lange.«
»Ja«, sagte er und ging mit ihr zur Treppe, »das stimmt.«
Sie zog sich ohne irgendein Schamgefühl in seinem Zimmer aus und half ihm mit sanften, mitfühlenden Händen.
Orry befürchtete, daß der Anblick seines Stumpfs sie abstoßen könnte, und er war dankbar für die schützende Dunkelheit. Sie küßte ihn und berührte ihn überall, auch an seiner Verletzung. Sie nahm bedenkenlos an seinem Kummer teil, wie er vorhin an dem ihrigen. Sie schmiegte sich mit ihrem nackten Körper an ihn, und lang gestaute Gefühle brachen hervor, als wäre plötzlich eine Schleuse geöffnet worden. Beide fühlten sie eine überwältigende und unendliche Befreiung. Sie tauchten in ein Meer von Glück, ließen sich eine Weile treiben, um dann von der nächsten Woge wieder mitgerissen zu werden.
Zufrieden und schläfrig lagen sie aneinandergekuschelt, ihr Arm auf seiner Brust, ihr leises Murmeln eine sanfte Untermalung der beruhigenden Melodie des Regens, die durch einen Halloruf von Charles unterbrochen wurde; offensichtlich rief er einem der Wachtposten etwas zu.
Nun, man konnte ihm die Bewachung von Mont Royal durchaus für ein oder zwei Stunden überlassen. Um nichts in der Welt hätte Orry auf diesen Augenblick verzichtet. Noch nie hatte er eine solche Glückseligkeit empfunden.
Im Verlauf der ersten Tage, die sie in Mont Royal verbrachte, litt Madeline an einer Reihe von Symptomen. Sie beklagte sich über Juckreiz und einen fast unstillbaren Durst. Tagsüber wechselten Schüttelfrost und Schweißausbrüche ab. Nachts phantasierte sie oft und redete im Schlaf. Der Arzt, den Orry hinzugezogen hatte, konnte keine spezifische Diagnose stellen und meinte mit beträchtlicher Unsicherheit, daß es sich um für Frauen typische Beschwerden handle. Er verschrieb drei Tonika, aber Madeline nahm nicht eins davon ein.
Sie litt ebenfalls unter grundlosen Wutanfällen, obwohl diese etwa um den zehnten Tag herum nachließen. Auch die anderen Symptome wurden schwächer und blieben dann schließlich ganz aus.
Unmittelbar darauf setzte eine echte Besserung ein. Ihr Gesicht verlor die Blässe, und ihre Haut nahm wieder eine kräftige Farbe an. Sie nahm viereinhalb Kilo zu und sah endlich nicht mehr so abgehärmt und verstört aus, wie dies so lange der Fall gewesen war.
Charles ließ die bewaffneten Sklaven während zwei Wochen auf ihrem Posten, aber keiner der beiden LaMotte-Brüder stattete Mont Royal je einen Besuch ab oder ließ irgendeine Drohung verlauten. Die Ereignisse auf dem Duellfeld waren offensichtlich nicht geheim geblieben. Als Cuffey einige Zeit später dort vorbeikam, stellte er fest, daß Forbes’ Leichnam verschwunden war.
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