William Wilkie Collins - Zwei Schicksalswege

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Wilkie Collins

Zwei Schicksalswege

Einleitung

Der Gast schreibt und erzählt die Geschichte der Mittagsgesellschaft

Seit meine Frau und ich die Vereinigten Staaten verließen, um England einen Besuch abzustatten, sind viele Jahre verflossen.

Wir waren natürlich mit vielen Empfehlungsbriefen versehen. Der eine davon war von dem Bruder meiner Frau geschrieben. Er sollte uns bei einem englischen Gentleman einführen, der unter seinen alten geschätzten Freunden hohes Ansehen genoss.

»Ihr werdet Mr. George Germaine in einer sehr interessanten Lebensepoche kennenlernen«, sagte mein Schwager, als wir uns von ihm verabschiedeten. »Die letzten Nachrichten, die ich von ihm erhielt, verkünden mir, dass er sich eben verheiratet hat. Ich weiß nichts von der Dame oder den Umständen, unter denen mein Freund ihr zuerst begegnet ist, aber davon bin ich überzeugt, ob Junggesell oder Ehemann, George Germaine wird euch um meinetwillen in England herzlich willkommen heißen.«

Am Tage unserer Ankunft in London gaben wir unseren Empfehlungsbrief in Mr. Germaines Hause ab.

Am nächsten Morgen gingen wir aus, um – den Tower von London – einen Lieblingsgegenstand des amerikanischen Interesses, zu besichtigen. Die Bürger der Vereinigten Staaten finden die Reliquien aus der guten, alten Zeit von großem Nutzen, um dadurch die Achtung der Nation vor den republikanischen Institutionen zu heben. Bei unserer Rückkehr ins Hotel sagten uns die Karten von Mr. und Mrs. Germaine, dass sie unseren Besuch bereits erwidert hatten. An demselben Abende erhielten wir eine Einladung, mit dem neuvermählten Paare zu speisen. Sie war in einem Billet von Mrs. Germaine an meine Frau enthalten, in dem sie uns mitteilte, dass wir keine große Gesellschaft erwarten sollten. »Es ist das erste Diner, das wir nach der Rückkehr von unserer Hochzeitsreise geben«, schrieb die Dame; »wir werden Sie nur mit einigen von meines Mannes alten Freunden bekanntmachen.«

In Amerika und, wie ich höre, auch auf dem Kontinent von Europa, erweist man dem Wirte die Höflichkeit, zu der in der Einladung bezeichneten Stunde pünktlich beim Diner zu erscheinen. Nur in England herrscht die unbegreifliche und unhöfliche Sitte vor, den Wirt und das Diner eine halbe Stunde länger warten zu lassen, ohne triftigen Grund, und ohne bessere Entschuldigung, als die hohle Redensart, die die Worte enthalten »bedaure mich verspätet zu haben.«

Wir hatten allen Grund uns zu beglückwünschen, dass wir durch unsere Unwissenheit so pünktlich zur bezeichneten Stunde in Mr. und Mrs. Germaines Hause anlangten; wir waren wirklich eine halbe Stunde vor den andern Gästen dort.

Die Art und Weise, wie sie uns begrüßten, war so herzlich und so frei von aller Förmlichkeit, dass wir uns wirklich in unsere Heimat zurückversetzt glaubten, und gewannen die Eheleute im ersten Augenblick, als wir sie sahen, unser Interesse. Die Dame bezauberte uns fast. In ihrem Gesicht und Wesen lag ein ungekünstelter Reiz, in allen ihren Bewegungen eine so anmutige Einfachheit, dazu ihre liebliche melodiöse Stimme, – kurz sie erschien uns Amerikanern ganz unwiderstehlich. Dass hier einmal ein glücklicher Ehebund geschlossen worden war, sah man klar und konnte sich dessen freuen! Dieses waren zwei Menschen, die in ihren innigsten Wünschen und Hoffnungen sympathisierten – denen man es ansah, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, dass sie füreinander geschaffen waren. Im Verlauf der halben Stunde, die uns um des guten Tons willen, mit unseren Wirten allein gegönnt war, hatte unsere Unterhaltung sich so gemütlich und vertraulich gestaltet, als wenn wir, alle vier, alte Freunde waren.

Als es acht Uhr schlug erschienen die ersten englischen Gäste. Da ich den Namen des Herrn vergessen habe, möge man mir gestatten, ihn durch einen Buchstaben des Alphabets zu bezeichnen. Ich werde ihn Mr. A. nennen. Als er ins Zimmer trat, sahen beide, mein Wirt und meine Wirtin, erschrocken und erstaunt aus. Sie erwarteten ihn sichtlich in Begleitung einer andern Person. Mr. Germaine empfing ihn mit der eigentümlichen Frage.

»Wo ist Ihre Frau?«

Mr. A. beantwortete diese Frage mit folgenden Worten der Entschuldigung:

»Sie hat heftiges Kopfweh. Sie bedauert unendlich, und hat mich beauftragt sie zu entschuldigen.«

Er hatte nur eben Zeit seinen Auftrag auszurichten, als ein anderer einzelner Herr erschien. Um an den Buchstaben des Alphabets festzuhalten, werde ich ihn Mr. B. nennen. Wiederum sah ich, dass meine Wirte erschraken, als sie ihn allein ins Zimmer treten sahen und zu meinem größten Erstaunen hörte ich Mr. Germaine an seinen neuen Gast wiederum die seltsame Frage richten:

»Wo ist Ihre Frau?«

Die Antwort war – mit einer kleinen Abweichung – Mr. A.s höfliche Entschuldigung, die Mr. B. wiederholte.

»Ich bedaure unendlich. Mrs. B. ist von heftigen Kopfschmerzen geplagt. Sie leidet oft daran und hat mich beauftragt sie zu entschuldigen.«

Mr. und Mrs. Germaine sahen einander an. Des Gatten Gesichtsausdruck verriet deutlich den Argwohn, den diese zweite Entschuldigung in ihm wachgerufen hatte. Die Frau war fest und ruhig. Es entstand eine längere Pause. Mr. A. und Mr. B. zogen sich schuldbewusst in eine Ecke zurück. Meine Frau und ich betrachteten die Bilder.

Mrs. Germaine erlöste uns endlich von der peinlichen Stille. Wie es schien, fehlten noch zwei Gäste, um die Gesellschaft vollzählig zu machen.

»Wollen wir gleich zu Tische gehen, George?« fragte sie ihren Gatten, »oder wollen wir auf Mr. und Mrs. C. Warten?«

»Wir wollen noch fünf Minuten warten«, antwortete er kurz – die Augen auf Mr. A. und Mr. B. gerichtet, die immer noch schuldbewusst in ihrer Ecke standen.

Die Tür des Empfangszimmers wurde geöffnet. Wir alle wussten, dass eine dritte Dame mit ihrem Gemahl erwartet wurde; und sahen alle in unsagbarer Erwartung nach der Tür. Unausgesprochen ruhten alle unsere Hoffnungen auf Mrs. C. Wird diese bewundernswürdige, wenn auch unbekannte Frau uns durch ihr Erscheinen zugleich entzücken und beruhigen? Mich durchschauert es noch, als ich dieses niederschreibe. Mr. C. betrat das Zimmer und – betrat es allein.

Mr. Germaine änderte seine bisherige Frage, indem er den Gast mit den Worten empfing:

»Ist Ihre Frau krank?«

Mr. C. War ein ältlicher Herr; er hatte dem Anscheine nach noch in der Zeit gelebt, wo die altmodischen Gesetze der Höflichkeit in voller Kraft waren. Als er seine beiden verheirateten Freunde in ihrer Ecke, unbegleitet von ihren Frauen entdeckte, entschuldigte er das Ausbleiben der seinen mit dem Ausdruck wirklicher Beschämung darüber. Mrs. C. bedauert so von Herzen. Sie hat sich sehr heftig erkältet. Es tut ihr so innig leid mich nicht begleiten zu können. Bei dieser dritten Entschuldigungsrede machte sich Mr. Germaines verhaltener Grimm in Worten Luft.

»Zwei arge Erkältungen und ein heftiges Kopfweh«, sagte er mit ironischer Höflichkeit. »Ich weiß nicht, meine Herren, wie sehr Ihre Gemahlinnen übereinstimmen, wenn sie gesund sind. In ihrem leidenden Zustande ist ihre Einigkeit bewunderungswürdig!«

Während dieser scharfen Worte wurde gemeldet, dass das Mahl serviert war.

Ich hatte die Ehre, Mrs. Germaine zu Tische zu führen. Die Erregung, die sie über die Beleidigung fühlte, welche ihr von den Frauen der Freunde ihres Mannes widerfahren war, äußerte sich nur in einem leisen, ganz leisen Zittern der Hand, welche sie auf meinen Arm legte. Mein Interesse für sich wuchs um das Zehnfache. Nur eine Frau, die gewohnt war zu leiden, die durch die Schule der Selbstbeherrschung schon gebeugt war, konnte das moralische Märtyrertum, das ihr auferlegt war, so tragen, wie diese Frau es vom Anfang bis zum Ende jenes Abends ertrug.

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