Wilkie Collins: Die Namenlosen
Wilkie Collins
Die Namenlosen
Roman
Aus dem Englischen neu
übersetzt von Sebastian Vogel
Unter dem Titel No Name erstmals erschienen 1862.
Übersetzung © Sebastian Vogel
Umschlaggestaltung © Sebastian Vogel
Umschlagbild: www.pixabay.com
Verlag: Sebastian Vogel
Erikaweg 5
50169 Kerpen
publishing@uebersetzungen-vogel.de
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
ISBN 978-3-7450-5186-5
Vorwort
Diese Geschichte verfolgt vor allem den Zweck, das Interesse des Lesers an einem Gegenstand zu wecken, welcher das Thema einiger der größten lebenden und verstorbenen Schriftsteller war – und das dennoch nie erschöpfend behandelt wurde oder behandelt werden kann. Es ist nämlich ein Thema, welches ewig interessant für die gesamte Menschheit ist. Hier ist wieder einmal ein Buch, welches den Kampf eines Menschen unter den gegensätzlichen Einflüssen von Gut und Böse nachzeichnet, Einflüssen, die wir alle schon gespürt haben, die wir alle kennen. Es war mein Ziel, der Gestalt der „Magdalen“, die diesen Kampf verkörpert, noch in all ihrer Widersprüchlichkeit und ihren Irrungen einen bedauernswerten Charakter zu verleihen; und ich habe mich sehr darum bemüht, dieses Ergebnis mit dem am wenigsten aufdringlichen und künstlichen Mittel zu erzielen: durch entschlossenes Festhalten an der Wahrheit, wie sie in der Natur liegt. Eine solche Gestaltung zu bewerkstelligen, war nicht einfach; und es war für mich (während der Veröffentlichung meiner Geschichte in Form von Fortsetzungen) eine große Ermutigung, durch die Kompetenz vieler Leser zu erfahren, dass ich das Ziel, welches ich mir selbst gesetzt hatte, wohl bis zu einem gewissen Grade als erreicht betrachten kann.
Um die Hauptfigur der Erzählung werden sich andere Gestalten gruppieren, die einen scharfen Kontrast bilden – einen Kontrast, für den ich größtenteils bestrebt war, dem Element des Humors eine beherrschende Bedeutung zu verschaffen. Den ernsteren Passagen des Buches eine solche Auflockerung hinzuzufügen, habe ich nicht nur deshalb versucht, weil ich mich dazu durch die Gesetze der Kunst berechtigt fühle, sondern auch weil die Erfahrung mich gelehrt hat (was meine Leser auf Grund ihrer Erfahrungen zweifellos bestätigen werden), dass ein moralisches Phänomen wie die unvermischte Tragödie in der Welt um uns herum nicht zu finden ist. Wohin wir auch blicken, im Gewebe des menschlichen Lebens überkreuzen sich ständig die Fäden der Dunkelheit und des Lichts.
Kommen wir von den Figuren zur Geschichte, so wird sich zeigen, dass die auf den folgenden Seiten wiedergegebene Handlung nach einem Plan aufgebaut ist, welcher sich von dem Plan, dem ich in meinem letzten Roman und in anderen, zuvor veröffentlichten Werken gefolgt bin, unterscheidet. Das einzige Geheimnis, das in diesem Buch enthalten ist, wird schon in der Mitte des ersten Bandes gelüftet. Von da an werfen die wichtigsten Ereignisse der Geschichte ihre Schatten absichtsvoll voraus, bevor sie stattfinden. Mit dieser Gestaltung möchte ich das Interesse des Lesers auf die Abfolge von Umständen lenken, durch die diese vorhersehbaren Ereignisse eintreten. Indem ich derart neues Terrain betrete, wende ich dem Gelände, das ich bereits passiert habe, nicht zweifelnd den Rücken zu. Wenn ich einen neuen Kurs einschlage, verfolge ich damit nur ein einziges Ziel: Ich möchte das Spektrum meiner Studien in der Kunst des Schreibens und die Vielfalt der Form, mit der ich mich an den Leser wende, erweitern und so reizvoll wie möglich machen.
Es besteht keine Notwendigkeit, zu diesen einleitenden Worten mehr hinzuzufügen, als hier geschrieben steht. Wenn ich sonst an dieser Stelle vielleicht noch etwas hätte sagen wollen, so war ich bestrebt, es das Buch für mich sagen zu lassen.
Für Francis Carr Beard (Fellow des Royal College of Surgeons of England) in Erinnerung an die Zeit, zu der die abschließenden Szenen der vorliegenden Geschichte geschrieben wurden.
Inhalt
Erste Szene: Combe-Raven, Somersetshire Erste Szene: Combe-Raven, Somersetshire
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen
Zweite Szene: Skeldergate, York
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Zwischenakt: Chronik der Ereignisse, festgehalten in Captain Wragges Depeschentasche
Dritte Szene: Vauxhall Walk, Lambeth
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen
Vierte Szene: Aldborough, Suffolk
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen
Fünfte Szene: Baliol Cottage, Dumfries
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen
Sechste Szene: St. John’s Wood
Kapitel 1
Kapitel 2
Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen
Siebte Szene: St. Crux-in-the-Marsh
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Zwischenakt: Der weitere Verlauf der Geschichte in Briefen
Letzte Szene: Aaron’s Buildings
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Erste Szene: Combe-Raven, Somersetshire
Kapitel 1
Die Zeiger der Uhr in der Halle standen auf halb sieben am Morgen. Das Haus, ein Landsitz im Westen von Somersetshire, hieß Combe-Raven. Es war der vierte März des Jahres achtzehnhundertsechsundvierzig.
Abgesehen vom stetigen Ticken der Uhr und dem trägen Schnarchen eines großen Hundes, der vor der Esszimmertür auf einer Matte hingestreckt lag, störte kein Geräusch die rätselhafte Stille in Halle und Treppenhaus. Wer waren die Schlafenden, die sich in den oberen Regionen verbargen? Lassen wir das Haus selbst seine Geheimnisse offenbaren; und lassen wir die Schlafenden sich zeigen, wenn sie aufgestanden sind und einer nach dem anderen die Treppe herunterkommen.
Als die Uhr Viertel vor sieben zeigte, wachte der Hund auf und schüttelte sich. Nachdem er vergeblich auf den Diener gewartet hatte, der ihn gewöhnlich hinausließ, wanderte er ruhelos im Erdgeschoss von einer verschlossenen Tür zur anderen; und nachdem er mit großer Verblüffung zu seiner Matte zurückgekehrt war, wandte er sich mit einem langen, melancholischen Heulen an die schlafende Familie.
Noch bevor die letzten Töne der Beschwerde des Hundes verklungen waren, knarrten die Eichenstufen in den höheren Gefilden des Hauses unter langsam herabsteigenden Schritten. Nach einer weiteren Minute erschien die erste Dienerin mit einem schäbigen Wollschal über den Schultern – der Märzmorgen war kalt, und der Rheumatismus und die Köchin waren alte Bekannte.
Nachdem sie die herzliche Begrüßung des Hundes mit der geringstmöglichen Anmut entgegengenommen hatte, öffnete die Köchin langsam die Tür der Halle und ließ das Tier hinaus. Es war ein ungestümer Morgen. Über einer geräumigen Rasenfläche und hinter einem schwarzen Tannengehölz bahnte sich die aufgehende Sonne ihren Weg durch Haufen aus zerklüfteten grauen Wolken; in großen Abständen fielen wenige schwere Regentropfen; der Märzwind fegte um die Ecken des Hauses, und die nassen Bäume schwankten träge.
Es schlug sieben; jetzt zeigten sich die Anzeichen des häuslichen Lebens in schnellerer Folge.
Das Hausmädchen kam – groß und schlank, mit der rot auf die Nase geschriebenen Frühlingstemperatur – die Treppe herunter. Ihr folgte – jung, schlau, dicklich und schläfrig – das Dienstmädchen der Lady. Als Nächste kam das Küchenmädchen – sie hatte Schmerzen im Gesicht und machte kein Geheimnis aus ihrem Leiden. Als Letzter erschien, bedrückt gähnend, der Hausdiener, das lebende Abbild eines Mannes, der das Gefühl hat, um seine wohlverdiente Nachtruhe betrogen worden zu sein.
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