„Ich nehme an, dies ist der Wohnort von Mr. Vanstone?“, fing er an, wobei er eine schwungvolle Handbewegung in Richtung des Hauses vollführte. „Habe ich die Ehre, mit einem Mitglied der Familie von Mr. Vanstone zu sprechen?“
„Ja“, antwortete die geradlinige Miss Garth. „Sie sprechen mit der Gouvernante des Hauses Vanstone.“
Der überzeugungskräftige Mann wich einen Schritt zurück, bewunderte die Gouvernante des Hauses Vanstone, trat wieder einen Schritt vor und nahm die Unterhaltung erneut auf.
„Und die beiden jungen Damen“, fuhr er fort, „die beiden jungen Damen, die mit Ihnen spazieren gegangen sind, das sind doch gewiss Mr. Vanstones Töchter? Die dunklere und – so nehme ich an – ältere der beiden habe ich an der Ähnlichkeit zu ihrer gut aussehenden Mutter erkannt. Und die jüngere Dame…“
„Sie sind mit Mrs. Vanstone bekannt, nehme ich an?“, sagte Miss Garth, womit sie den Redefluss des Fremden unterbrach, der angesichts der Umstände nach ihrer Ansicht recht frei dahinzuströmen begann. Der Fremde nahm die Unterbrechung mit einer seiner höflichen Verbeugungen zur Kenntnis und überschüttete Miss Garth mit seinem nächsten Satz, als sei nichts geschehen.
„Die jüngere Dame, so vermute ich“, fuhr er fort, „kommt auf ihren Vater? Ich versichere Ihnen, ihr Gesicht ist mir aufgefallen. Als ich es mit meinem freundschaftlichen Interesse an der Familie ansah, kam es mir sehr bemerkenswert vor. Ich habe zu mir selbst gesagt: liebenswürdig, charakteristisch, denkwürdig. Nicht wie ihre Schwester, nicht wie ihre Mutter. Sie ist ohne Zweifel das Abbild ihres Vaters?“
Noch einmal unternahm Miss Garth einen Versuch, sich dem Strom seiner Worte entgegenzustemmen. Es war klar, dass er Mr. Vanstone nicht einmal vom Sehen kannte – sonst hätte er nicht den Fehler begehen können anzunehmen, dass Magdalen auf ihren Vater kam. Kannte er Mrs. Vanstone besser? In diesem Punkt hatte er Miss Garth’ Frage unbeantwortet gelassen. Um alles in der Welt, wer war er? Frechheit siegt! Was wollte er?
„Sie mögen ein Freund der Familie sein, aber ich kann mich nicht an Ihr Gesicht erinnern“, sagte Miss Garth. „Was ist Ihr Anliegen, wenn ich fragen darf? Sind Sie gekommen, um Mrs. Vanstone einen Besuch abzustatten?“
„Ich hatte mich auf das Vergnügen gefreut, mich mit Mrs. Vanstone zu unterhalten“, erwiderte der unwiderstehlich ausweichende und unwiderstehlich höfliche Mann. „Wie geht es ihr?“
„Ganz wie gewöhnlich“ sagte Miss Garth, wobei sie spürte, wie die Reserven ihrer Höflichkeit schnell zur Neige gingen.
„Ist sie zu Hause?“
„Nein.“
„Ist sie lange fort?“
„Sie ist mit Mr. Vanstone nach London gefahren.“
Das lange Gesicht des Mannes wurde plötzlich noch länger. Sein gallebraunes Auge blickte verdutzt drein, und das gallegrüne Auge folgte dem Beispiel. Sein Betragen wurde spürbar ängstlicher, und seine Worte wählte er noch sorgfältiger als zuvor.
„Wird sich Mrs. Vanstones Abwesenheit über einen längeren Zeitraum erstrecken?“, erkundigte er sich.
„Sie wird sich über drei Wochen erstrecken“, antwortete Mrs. Garth. „Ich glaube, Sie haben jetzt genug Fragen gestellt“, fuhr sie fort, wobei sie zuließ, dass die Gereiztheit immer mehr Besitz von ihr ergriff. „Wenn es Ihnen beliebt, seien Sie doch so freundlich, Ihre Anliegen und Ihren Namen zu nennen. Wenn Sie Mrs. Vanstone eine Nachricht zu hinterlassen wünschen, werde ich ihr noch heute mit der Abendpost schreiben und mich darum kümmern.“
„Tausend Dank! Ein höchst wertvoller Vorschlag. Gestatten Sie mir, sofort Gebrauch davon zu machen.“
Der Mann ließ sich durch Mrs. Garth’ strenge Blicke und Worte nicht im Mindesten beirren – er war durch ihren Vorschlag einfach erleichtert und zeigte es mit höchst gewinnender Aufrichtigkeit. Dieses Mal ergriff sein gallegrünes Auge die Initiative und wurde für das gallebraune Auge zu einem Vorbild der wiedergewonnenen Gelassenheit. Seine gekräuselten Lippen vollführten eine neue Biegung nach oben; er klemmte seinen Regenschirm forsch unter den Arm und brachte aus der Innentasche seines Mantels ein großes, altmodisches schwarzes Notizbuch zum Vorschein. Diesem entnahm er einen Bleistift und eine Karte. Er zögerte und dachte einen kurzen Moment nach, schrieb schnell etwas auf die Karte und legte sie mit der höflichsten Eilfertigkeit Miss Garth in die Hand.
„Ich werde mich Ihnen persönlich verpflichtet fühlen, wenn Sie mir die Ehre erweisen, diese Karte Ihrem Brief beizufügen“, sagte er. „Es besteht keine Notwendigkeit, Ihnen zusätzlich Mühe mit einer Nachricht zu machen. Mein Name wird völlig ausreichen, um Mrs. Vanstone eine kleine Familienangelegenheit ins Gedächtnis zu rufen, die ihrer Erinnerung zweifellos entfallen ist. Bitte nehmen Sie meinen besten Dank entgegen. Dies war für mich ein Tag der angenehmen Überraschungen. Ich habe das Land hierherum bemerkenswert hübsch vorgefunden; ich habe die beiden liebenswürdigen Töchter von Mrs. Vanstone gesehen; ich habe die Bekanntschaft einer ehrenwerten Lehrerin aus Mr. Vanstones Familie gemacht. Ich gratuliere mir selbst – ich bitte um Verzeihung, dass ich Ihre kostbare Zeit beansprucht habe – ich versichere Sie noch einmal meiner Dankbarkeit – ich wünsche Ihnen einen guten Morgen.“
Er lüftete den hohen Hut. Sein braunes Auge blinzelte, sein grünes Auge blinzelte, seine gekräuselten Lippen lächelten liebenswürdig. Im nächsten Augenblick machte er auf dem Absatz kehrt. Sein jugendlicher Rücken gereichte ihm zum größten Vorteil; die lebhaften kleinen Beine trugen ihn trippelnd in Richtung des Dorfes davon. Eins, zwei drei – und er erreichte die Straßenbiegung. Vier, fünf, sechs – und weg war er.
Miss Garth sah hinunter auf die Karte in ihrer Hand und hob den Blick wieder in blankem Erstaunen. Name und Adresse des geistlich aussehenden Fremden (beides mit Bleistift geschrieben) lauteten: Captain Wragge. Postamt, Bristol.
Kapitel 3
Als Miss Garth zum Haus zurückkehrte, unternahm sie keinen Versuch, ihre unvorteilhafte Meinung über den schwarz gekleideten Fremden zu verbergen. Sein Ziel bestand zweifellos darin, finanzielle Unterstützung von Mrs. Vanstone zu erlangen. Welcher Art sein Anspruch gegen sie sein mochte, war weniger leicht zu begreifen – es sei denn, es war der Anspruch eines armen Verwandten. Hatte Mrs. Vanstone jemals in Gegenwart ihrer Töchter den Namen von Captain Wragge erwähnt? Keine von beiden konnte sich erinnern, ihn schon einmal gehört zu haben. Hatte Mrs. Vanstone jemals einen armen Verwandten erwähnt, der von ihr abhängig war? Im Gegenteil: In den letzten Jahren hatte sie davon gesprochen, sie habe Zweifel, ob sie überhaupt Verwandte hätte, die noch am Leben seien. Und doch hatte Captain Wragge unverblümt erklärt, der Name auf der Karte werde Mrs. Vanstone „eine Familienangelegenheit“ ins Gedächtnis rufen. Was hatte das zu bedeuten? Eine Falschaussage auf Seiten des Fremden, die er ohne erkennbaren Grund gemacht hatte? Oder ein zweites Rätsel, das der rätselhaften Reise nach London auf dem Fuße folgte?
Aller Wahrscheinlichkeit nach bestand eine verborgene Verbindung zwischen der „Familienangelegenheit“, die Mr. und Mrs. Vanstone so plötzlich von zuhause abberufen hatte, und der „Familienangelegenheit“, die sich mit dem Namen von Captain Wragge verband. Alle Zweifel stürzten erneut unwiderstehlich auf Miss Garth’ Geist ein, als sie ihren Brief an Mrs. Vanstone, dem sie die Karte des Captain beigefügt hatte, versiegelte.
Mit der nächsten Post traf die Antwort ein.
Als der Brief gebracht wurde, war Miss Garth, die sich von den Damen des Hauses morgens stets als erste erhob, allein im Frühstückszimmer. Ein erster Blick auf den Inhalt überzeugte sie von der Notwendigkeit, das Schreiben sorgfältig und in Ruhe durchzulesen, bevor man ihr peinliche Fragen stellen konnte. Nachdem sie dem Diener eine Nachricht hinterlassen und Norah darin gebeten hatte, heute Morgen den Tee zu machen, begab sie sich umgehend nach oben in die Abgeschiedenheit und Geborgenheit ihres Zimmers.
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