William Wilkie Collins - John Jagos Geist
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Wilkie Collins
John Jagos Geist
Erstes Capitel.
Der kranke Mann
Herz, Lungen, alles in Ordnung, – sagte der Arzt. »Ich vermag kein organisches Übel bei Ihnen zu entdecken, Philipp Lefrank. Beunruhigen Sie sich also nicht. Sie brauchen nicht sofort zu sterben. Die Krankheit, an der Sie leiden, ist – Überarbeitung, das Heilmittel – Ruhe.«
So sprach in meinem Bureau in dem Tempel (London) der Arzt, welcher etwa eine halbe Stunde später herbeigeholt worden war, nachdem ich meinen Schreiber durch eine plötzliche Ohnmacht an meinem Pult erschreckt hatte. Ich habe kein Verlangen, mich der Aufmerksamkeit bei des Lesers unnütz aufzudrängen, es ist aber doch vielleicht der Erklärung wegen notwendig hinzuzusetzen, daß ich ein junger Advokat mit guter Praxis bin. Ich stamme von der Insel Jersey. Die französische Schreibart meines Namens (Lefranc) wurde schon vor Generationen anglisiert, zu jener Zeit, als der Buchstabe »k« noch am Ende von Worten in Gebrauch war, die heute mit »c« endigen. Dennoch setzt unsere Familie einen besonderen Stolz darein, von Jersey herzustammen, und meinem Vater ist es bis auf den heutigen Tag noch schmerzlich, seinen Sohn in der englischen Justiz zu wissen. —
»Ruhe!« wiederholte ich, als mein ärztlicher Ratgeber ausgesprochen hatte. »Bedenken Sie auch, mein lieber Freund, daß wir uns mitten in den Gerichtssitzungen befinden? Der Gerichtshof ist versammelt. Sehen Sie dort die Akten auf dem Tisch, die meiner harren.Ruhe würde in meinem Falle soviel als Ruin bedeuten.«
»Und Arbeit soviel als der Tod,« fügte der Doktor kaltblütig hinzu.
Ich erschrak. Es war kein Versuch mich zu ängstigen; er sprach in vollem Ernst.
»Es ist nur eine Frage der Zeit,« fuhr er fort. »Sie haben eine gute Konstitution; Sie sind ein junger Mann, aber Sie dürfen Ihren Kopf nicht länger so anspannen und Ihr Nervensystem ruinieren. Machen Sie, daß Sie aus England fortkommen. Wenn Sie ein tüchtiger Seemann sind, so machen Sie eine Seereise. Die Luft aus dem Meere ist die beste, um Ihren Menschen von Grund auf zu erneuern. Nein, ich will kein Rezept schreiben. Mit Mediziniren ist hier nichts getan. Weiter habe ich nichts zu sagen.«
Mit diesen Worten verließ mein ärztlicher Freund das Büreau. Ich war eigensinnig und ging noch am nämlichen Tage in die Gerichtssitzung.
Der ältere Advokat, mit welchem ich in derselben Sache zusammen engagiert war, wandte sich wegen einiger Informationen an mich, die ihm zu erteilen meine Pflicht war. Zu meinem Schrecken und Erstaunen war ich vollkommen unfähig, meine Gedanken zu sammeln; Tatsachen und Daten, alles ging verworren in meinem Kopfe durcheinander. Erschreckt über mich selbst, wurde ich aus dem Gerichtssaal geführt. Den folgenden Tag schickte ich meine Akten zurück und befolgte den Rat meines Arztes, indem ich mich auf dem ersten Dampfer einschiffte, welcher nach New.York die Anker lichtete.
Ich hatte der Reise nach Amerika vor jeder andern Seereise den Vorzug gegeben, weil ich einen besonderen Zweck dabei im Auge hatte. Ein Verwandter meiner Mutter war vor mehreren Jahren nach den Vereinigten Staaten ausgewandert und hatte dort als Farmer sein Glück gemacht. Ich war von ihm ein für allemal eingeladen worden, ihn zu besuchen, wenn ich jemals über das atlantische Meer käme. Die lange Zeit der Untätigkeit, zu der mich der Arzt unter dem Namen der Ruhe verurteilt hatte, konnte ich, wie mich dünkte, nicht besser anwenden, als indem ich meinem Verwandten einen Besuch machte und dabei so viel von Amerika sah, als sich tun ließ. Nach einem kurzen Aufenthalt in New.York reiste ich mit der Eisenbahn nach dem Wohnort meines Gastfreundes Mr. Isaak Meadowcroft auf Morwick Farm ab.
Wenn Amerika einige der großartigsten Naturszenen der ganzen Erdoberfläche aufzuweisen hat, so gibt es doch in gewissen Staaten der Union, gleichsam als heilsamen Kontrast, so flache, einförmige und für den Touristen so uninteressante Landstriche, wie sie nur irgendwo auf der Erde vorkommen. Die Gegend, in welcher Mr. Meadowcrofts Farm lag, gehörte dieser letzteren Kategorie an. Als ich auf der Station Morwick aus dem Waggon stieg und mich umsah, sagte ich zu mir selbst: »Wenn in meinem Falle Genesung und Langeweile gleichbedeutend sind, so habe ich mir gerade den richtigen Ort auserlesen.«
Wenn ich nach meinen späteren Erlebnissen, an diese Worte zurückdenke, so muß ich sie, wie es der Leser auch tun wird, als übereilt bezeichnen, denn ich vergaß, welche Überraschungen das Zusammenwirken von Zeit und Umständen den Menschen oft bereiten kann.
Mr. Meadowcrofts ältester Sohn, Ambrosius, erwartete mich mit dem Wagen auf der Station, um mich nach der Farm zu fahren.
In der äußern Erscheinung von Ambrosius Meadowcroft lag nichts, woraus man auf die seltsamen, schrecklichen Ereignisse hätte schließen können, die sich gleich nach meiner Ankunft in Morwick zutragen sollten. Ein blühender hübscher junger Bursche, wie es Tausende gibt, redete mich an. »Wie gehts, Mr. Lefrank. Freue mich, Sie zu sehen, Sir. Steigen Sie ein. Der Kutscher wird nach Ihrem Koffer sehen.« Mit derselben konventionellen Höflichkeit antwortete ich: »Danke sehr. Wie befinden sich die Ihrigen zu Hause?« Damit fuhren wir nach der Farm ab.
Unsere Unterhaltung während der Fahrt begann mit einem Gespräch über Ackerbau und Viehzucht, aber ehe wir noch eine Viertelmeile zurückgelegt, hatte ich bereits meine vollständige Unwissenheit über diese Gegenstände verraten. Ambrosius Meadowcroft suchte nach einem andern Thema, fand jedoch keins; worauf ich meinerseits dies und jenes anschlug und unter anderem auch fragte, ob ich einen geeigneten Zeitpunkt für meinen Besuch getroffen hätte. Das ausdruckslose sonnen braune Gesicht des jungen Farmers strahlte augenblicklich über und über. Ich hatte offenbar einen guten Treffer gehabt und ein interessantes Thema angeschlagen.
»Sie hätten keine bessere Zeit wählen können,« sagte er. »Unser Haus ist niemals so heiter wie jetzt gewesen.«
»Haben Sie noch andern Besuch?«
»Es ist eigentlich kein Besuch. Es ist ein neues Familienmitglied, welches seit kurzem. bei uns lebt.«
»Ein neues Familienmitglied! Darf ich fragen, wer das ist?«
Ambrosius Meadowcroft überlegte, ehe er antwortete – berührte sein Pferd mit der Peitsche – sah mich mit einer gewissen einfältigen Unentschlossenheit an und platzte dann mit der Wahrheit in den möglich einfachsten Worten heraus.
»Es ist nämlich das hübscheste Mädchen, welches Sie in Ihrem Leben gesehen haben, Sir.«
»So, so! Vermutlich eine Freundin Ihrer Schwester.«
»Eure Freundin? Du lieber Himmel! Es ist unsere kleine amerikanische Cousine – Naomi Colebrook.«
Ich erinnerte mich dunkel, daß eine jüngere Schwester Mr. Meadowcrofts einen amerikanischen Kaufmann geheiratet und bei ihrem kürzlich erfolgten Tode ein einziges Kind hinterlassen hatte. Ich erfuhr nun, daß auch der Vater gestorben sei und auf seinem Sterbebette seine verwaiste Tochter dem Schutz und der Fürsorge der Verwandten seiner Frau auf Morwick übergeben habe.
»Er hatte immer den Kopf voll Spekulationen,« fuhr Ambrosius fort zu erzählen, »versuchte dies und jenes – es schlug aber alles fehl, und als er starb, reichte seine ganze Hinterlassenschaft nur gerade hin, um die Begräbniskosten zu bestreiten. Mein Vater hatte einige Bedenken in Betreff seiner amerikanischen Nichte, bevor sie zu uns kam. Wir sind Engländer, wie Sie wissen, und wenn wir auch in den Vereinigten Staaten leben, so halten wir doch an unseren englischen Sitten und Gewohnheiten fest. Wir mögen die amerikanischen Frauen im Allgemeinen nicht, kann ich Sie versichern. Aber sobald Naomi erschien, hatte sie uns auch Alle erobert. Ein wahres Prachtmädchen! Nahm ihren Platz im Hause sofort wie zur Familie gehörig ein; wußte sich in Zeit von einer Woche schon in der Milchkammer nützlich zu machen. Kurzum – sie ist noch nicht volle zwei Monate bei uns und wir begreifen schon nicht mehr, wie wir ohne sie haben leben können.«
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