William Wilkie Collins - Nicht aus noch ein

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Charles Dickens, Wilkie Collins

Nicht aus noch ein

Ouvertüre

Monat und Jahrestag: der dreißigste November eintausendachthundertfünfunddreißig. Londoner Zeit nach der großen Uhr von Saint Paul: zehn Uhr Abends. Auch die geringeren Kirchen Londons lassen ihre metallenen Stimmen ertönen. Einige fangen geschäftig früher als die gewichtige Glocke der großen Kathedrale an, andere beginnen träge drei, vier, ein halbes Dutzend Schlage nach ihr. Alle aber halten genügend die Zeit ein, um ein so mächtiges Klingen in der Luft zu verbreiten, als ob der beschwingte Vater der Götter, der einst seine Kinder verschlang, über die City dahinflöge und tönend seine Riesensense schwinge.

Eine Glocke klingt bescheidener als alle die andern, dem Ohre näher und verspätet sich heute Abend dergestalt, daß sie, nachdem die übrigen ausgeschwungen haben, allein noch hörbar bleibt. Es ist die Uhr des Findelhauses. Früher wurden die Kinder schweigend, ohne daß man ein Wort über sie wechselte, in der Wiege vor der Eingangspforte aufgenommen. Jetzt verlangt man Auskunft über sie und nimmt sie nach Gunst den Müttern ab, welche alle natürlichen Rechte und jeden Anspruch aufgeben, je wieder etwas von ihren Kindern zu erfahren.

Der Mond scheint voll und der Abend ist schön. Leichte Wolken schweben am Himmel. Der Tag war kein guter, denn Schmutz und Schlacken, zu denen sich noch der dichte fallende Nebel gesellt, liegen schwarz in den Straßen. Die verschleierte Dame, welche unweit der Hinterthür des Findelhauses auf und nieder geht, muß feste Schuhe anhaben.

Sie eilt hin und her, vermeidet sichtlich den Ort, wo die Miethswagen stehen und hält oft die Schritte am westlichen Ende des Mauervierecks im tiefen Schatten an, ihr Auge heftet sich auf die Thür. Wie über ihr die Klarheit des monddurchleuchteten Himmels waltet und unter ihr der Schmutz der Straße lagert, so mögen ihrer Seele zwei verschiedene Bilder vorschweben und dieselbe zwischen Furcht und Hoffnung hin und wieder reißen. Wie ihre Fußtapfen einer über den andern fortgehend ein Labyrinth in den Schlamm gedrückt haben, so mag ihr Lebenslauf sich verirrt und sie planlos in unentwirrbare Vermittlungen geführt haben. Die Hinterthür des Findelhauses öffnet sich und ein junges Mädchen tritt heraus. Die Dame steht unbeweglich, mit unverwandten Blicken. Sie hört, wie die Pforte von innen wieder verschlossen wird und folgt dem jungen Mädchen nach.

Zwei oder drei Straßen mögen so schweigend durchschritten sein, ehe sie, dicht hinter dem Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit her schreitend, ihre Hand ausstreckt und das Mädchen berührt. Die Letztere hält erschrocken ihre Tritte ein und sieht sich um. »Sie haben mich auch gestern angehalten und als ich mich zu Ihnen wendete, nicht sprechen wollen. Warum verfolgen Sie mich wie ein stummer Schatten?«

»Nicht weil ich nicht sprechen wollte,« entgegnete die Dame mit leiser Stimme, »sondern weil ich nicht konnte, als ich zu reden versuchte.«

»Was wollen Sie von mir. Ich habe Ihnen nie etwas zu Leide gethan.«

»Nein.«

»Kenne ich Sie?«

»Nein.«

»Also, was wollen Sie von mir?«

»Zwei Guineen befinden sich in diesem Papier. Nehmen Sie das armselige Geschenk und ich will es sagen.«

Des jungen Mädchens ehrliches und freundliches Antlitz überzog eine tiefe Röthe, als sie erwiderte: »In dem ganzen großen Haushalt, dem ich angehöre, unter den Erwachsenen, wie unter den Kindern, giebt es keinen, der nicht ein freundliches Wort für Sally hätte. Ich bin Sally. Könnte man mich so lieb haben, wenn ich zu bestechen wäre?«

»Es ist nicht meine Absicht, Sie zu bestechen; ich wollte Ihnen nur eine geringe Belohnung zukommen lassen!«

Sally schloß nicht unfreundlich aber bestimmt, die Hand, die ihr das Geld anbot, und wehrte sie von sich. »Wenn ich irgend etwas für Sie thun kann,« Ma’am, so werde ich es ohne das thun, aber Sie verkennen mich, wenn Sie meinen, daß ich Ihnen des Geldes wegen gefälliger bin. Was wünschen Sie?«

»Sie sind Kinderwärterin oder Dienerin in dem Findelhause. Ich habe Sie heute und gestern herauskommen sehen.«

»Ja. Das bin ich. Ich bin Sally.«

»Ihre Züge sind freundlich und einnehmend. Ich kann mir denken, wie die Kleinen an Ihnen hängen.«

»Gott vergelte es ihnen. Das thun sie.«

»Die Dame schlug ihren Schleier zurück und enthüllte ein Antlitz, welches nicht älter als das der Kinderwärterin war, ein Antlitz viel geistvoller und feiner, aber erregt und non Sorgen durchfurcht.

»Ich bin die unglückliche Mutter eines kürzlich von Euch aufgenommenen Kindes. Ich habe eine Bitte.«

»Sally instinctmäßig die Empfindung verstehend, welche die Dante veranlaßte den Schleier zurückzuschlagen, deckte ihn wieder über deren Antlitz; und fing an zu weinen. Die Handlung war wie alle ihre Handlungen einfach und natürlich.

»Sie wollen meine Bitte erhören?« fuhr die Dame dringend fort. »Sie wollen nicht taub sein für das in Angst gesprochene Gebet einer so gramgebeugten Flehenden, wie ich bin?«

»O, du mein lieber Himmel!« rief Sally »Was soll ich sagen und was kann ich thun? Reden Sie nicht von Gebeten. Gebete werden an den Vater aller Wesen gerichtet, aber nicht an Kindermädchen und solche Leute. Und, noch Eins! Ich »werde nur noch ein halbes Jahr in meiner Stellung bleiben, bis eine Andere angelernt sein wird. Ich werde heirathen. Ich hätte heute und gestern Abend nicht ausgehen sollen, aber mein Dick, das ist der junge Mann, den ich heirathen will, ist krank und ich stehe seiner Mutter und Schwester, die ihn pflegen, bei. Nehmen Sie sich Ihr Unglück nicht so zu Herzen. Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen.«

»O, gute, liebe Sally,« seufzte die Dame und ergriff flehend des Mädchens Kleid. »Weil Du voller Hoffnung erscheinst und ich ganz hoffnungslos bin, weil ein schönes Leben vor Dir liegt, was nie – nie mehr vor mir liegen kann, weil Du den gerechten Anspruch hast, ein geachtetes Weib und eine stolze Mutter zu werden, weil Du lebst und liebst und dereinst sterben mußt, erhöre mein verzweifeltes Flehen um Gottes willen!«

»Gott im Himmel bewahre mich!« rief Sally, den Ausdruck der höchsten Verzweiflung auf das dritte Wort legend. »Was kann ich Arme thun? Und schrecklich! wie Sie meine eigenen Worte gegen mich gebrauchen. Ich erzählte Ihnen wie bald ich mich verheirathen würde, um Ihnen deutlich zu machen, daß ich das Haus verließe, Ihnen also nicht helfen könnte, wenn ich auch wollte, arme Seele! Und nun wenden Sie die Sache so, daß es mir selbst erscheint, als ob es grausam wäre, mich verheirathen zu wollen, statt Ihnen zu helfen. Das ist nicht recht. Ich frage Sie, ob das recht ist? – Arme Seele!«

»Sally, höre mich, meine Gute. Ich bitte nicht um Deinen Beistand für etwas Zukünftiges. Etwas Vergangenes will ich wissen, was in zwei Wörtern gesagt werden kann.«

»O weh! das wird schlimmer und schlimmer!« rief Sally, »vorausgesetzt, daß ich errathe, welche beiden Wörter Sie meinen.«

»Du erräthst sie. Welche Namen hat man meinem armen Kinde gegeben? Ich habe von der im Hause üblichen Sitte gelesen. Die Kinder werden in der Capelle getauft und mit irgend einem Zunamen in das Buch eingetragen. Der Knabe ist am Montag Abend aufgenommen. Welche Namen hat man ihm gegeben?«

Bei ihrem leidenschaftlichen Beschwören wollte die Dame mitten in dem Schlamm der Seitenstraße, in welche sie eingetreten waren – eine öde Gasse ohne Ausgang, die an den dunkeln Garten des Findelhauses stieß – auf die Kniee sinken, aber Sally verhinderte sie daran.«

»Nicht doch! nicht doch! Sie treiben es so, daß ich mir einbilden könnte, etwas besonders Gutes zu thun. Lassen Sie mich in Ihr liebes Antlitz blicken. Legen Sie Ihre beiden Hände in die meinen. So, jetzt versprechen Sie, daß Sie mir nichts weiter, als die beiden Wörter abfragen wollen.«

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