Gerard Keller - Ein Legat

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Gerald Keller

Ein Legat

Erstes Capitel

»Niemand da gewesen, Nohr?«

»Nein, Herr Pfarrer, wie gewöhnlich.«

Pastor Nadering, der mit einiger Eile herangeschritten kam, sah rasch auf seine Uhr, um zu wissen, wie viel Zeit er zu spät kam, trat dann in die Sakristei, schlug vor dem Lehnstuhl, der am oberen Ende des Tisches stand, die Bibel auf und setzte sich etwas weiter auf einem anderen Stuhl in die Sonne. Ganz gemächlich legte er das eine Bein über das andere, nahm die neueste Zeitung heraus und begann zu lesen. Wie er da saß, hätte er eine prächtige Studie für ein Genrebild abgeben können und seine äußere Erscheinung trug dazu nicht wenig bei. Nadering war ein Mann zwischen fünfzig und sechzig Jahren, von blühendem und gesundem Aussehen, hellen, fröhlichen Augen, mit einem kahlen Schädel, der von einem Kranz geringelter Locken umgeben war, was dein Gesichte einen besonders lebenslustigen Ausdruck gab und mit dem kurzen untersetzten Körperbau vollständig im Einklang stand. Er war selbstverständlich in Schwarz, aber sowohl der Schnitt des Rockes und der Hose, als die gefaltete Wäsche deuteten an, daß er sich nicht zu einer festlichen Zusammenkunft vorbereitet hatte. Welcher Art die Zusammenkunft war, ist diesmal allerdings schwer zu wissen, denn als Nohr ein halbes Stündchen an der offenen Kirchenthür gestanden und in die Luft gesehen hatte, legte er die kurze Pfeife bei Seite, ging an die Thür zur Sakristei, und nachdem er angeklopft hatte, steckte er den Kopf hinein und sagte: »Es ist ein Viertel, Herr Pfarrer.«

»So, Nohr, ich danke!«

Nadering legte die Zeitung wieder zusammen, steckte sie in die Brusttasche seines Rockes, schlug die Bibel zu, sah nochmals nach seiner Uhr und verließ dann mit den Worten: »Auf Samstag, Nohr!« die Kirche, um nach seiner Wohnung zu gehen.

Nohr sah in der Sakristei nach, ob der Pastor Alles in Ordnung gelassen hatte, worauf er die schwere Kirchenthür mit einem so heftigen Schlage zuwarf, daß ein paar Sperlinge, die in der Nähe einander nachhüpften, erschreckt aufflogen; dann suchte er seine kurze Pfeife, und damit war der Donnerstagsmittagsdienst vorbei.

»Guten Tag, Herr Walther!«

»Schön Dank, Herr Pastor,« klang es von der anderen Seite der Straße, und ein langer Mensch, mit etwas Donquixoteartigem in seiner Erscheinung, grüßte leichthin mit der Hand, obschon der Pastor, wie es Gebrauch war, den Hut abgenommen hatte. Weit davon entfernt, sich dadurch beleidigt zu fühlen, ging dieser fröhlich auf den Don Quixote zu, reichte ihm die Hand hin und frug:

»Wann kommen Sie denn einmal, Herr Walther, um das Familienportrait bei mir zu sehen?«

»Sofort, wenn es Ihnen paßt, ich habe gerade ein halbes Stündchen Zeit.«

»Schön, das trifft sich gut; auch ich habe noch ein halbes Stündchen bis zum Mittagsessen – und darauf wieder Katechismusunterricht, und soeben erst die Bibelstunde gehalten; ich habe gegenwärtig viel zu thun, da Alles auf mir ruht; glücklicherweise haben wir endlich unseren Mann gefunden.«

So gutmüthig plaudernd, ging der Prediger weiter, rechts und links grüßend, während der Maler, denn Walther war der Maler von Helmstadt, an seiner Seite ging und seine Reputation als Künstler dadurch aufrecht erhielt, daß er so ernsthaft wie möglich vor sich hinsah, als lebe er ausschließlich in der Welt der Ideen, ohne die geringste Gemeinschaft mit der Welt der Wirklichkeit.

»Jeder hat seine Beschäftigung,« sagte er, »ich habe auch die meinige – Donnerstags muß ich immer einen ganzen Tag auf dem Museum verlieren; Sie wissen, daß es dann geöffnet ist.«

»So – nein, das wußte ich eigentlich nicht; ich dachte, es sei immer geöffnet; ei, ei, Donnerstag sagen Sie, das thut mir leid, daß ich da nicht kann, denn sehen Sie, gerade Donnerstag muß ich Bibelstunde halten . . . . Wird das Museum fleißig besucht?« fragte er dann, denn sein letztes Wort hatte ihn unwillkürlich auf diese Frage gebracht.

»Mit Unterschied,« sagte Walther, aber diese Erklärung schien ihm selbst nicht zu gefallen, denn er stand mit einem Male still, und indem er sich mit über einander geschlagenen Armen dem Prediger gegenüberstellte, sagte er mit wehmüthigem Ernste:

»Wollen Sie wohl glauben, Herr Pastor, daß beinahe nie Jemand kommt?«

»Was Sie sagen,« versetzte Nadering und schüttelte bedächtig mitleidig den Kopf, während Walther im bestätigenden Sinne ebenfalls den Kopf schüttelte.

»Es ist kein Kunstgefühl in dem Volke, keine Spur.«

»Traurig, traurig,« sagte Nadering.

»Es fehlt jedes Gefühl für höhere Entwicklung.«

»Das ist leider nur zu wahr, Herr Walther – so zum Beispiel« – Nadering überlegte rechtzeitig, daß der Maler katholisch war und die Mittheilung über die Donnerstags-Bibelstunde daher bei ihm nicht an den rechten Mann kommen würde. Walther war auch nicht sehr neugierig auf das Beispiel, denn das seinige war treffend genug. Er war den ganzen Vormittag auf dem Museum gewesen und kein Mensch hatte sich dort sehen lassen, nur ein paar kleine Jungen waren durch die geöffnete Thür hineingegangen, um zu sehen, was es dort gebe. Als sie nichts Besonderes sahen, hatte der Größte die Mütze des Kleinsten in das Vorzimmer geworfen, und nachdem dieser sein Mützchen zurückgeholt hatte, waren Beide mit einem lauten Jubelgeschrei wieder fortgelaufen. Das war die einzige Huldigung, welche die Bewohner von Helmstadt an diesem Tage der Kunst dargebracht hatten. Wie es mit der Bibelstunde ging, wissen wir bereits, und so geschah es einen Donnerstag nach dem anderen, und mit Recht schüttelten die beiden Herren, Nadering und Walther, den Kopf über den Mangel an höherem Sinn bei ihren Stadtgenossen.

Der Donnerstag war vielleicht auch ein unglücklicher Tag für die beiden Unternehmungen, da es der Markttag und der Hauptversammlungstag für die Clubgesellschaft war. Aber gerade im Hinblick auf das Zusammenströmen von Fremden aus der Umgegend war die Bibelstunde festgesetzt worden und hatte man das Museum für Jedermann unentgeltlich geöffnet. Die Menschen aber kamen wohl auf den Markt und zum Theil besuchten sie die Clubgesellschaft, aber für die Bibelstunde und das Museum blieb ihnen keine Zeit übrig.

»Wenn es gefällig ist, nach Ihnen,« sagte Nadering, nachdem er seine Hausthür geöffnet hatte, und indem er Walther zum Eintreten einlud. Dieser trat ein und sah sich in demselben Augenblicke der Gattin des Predigers gegenüber.

Frau Nadering pflegte ihrem Manne täglich entgegen zu gehen, sobald sie hörte, daß er zu Hause ankam. Es war dies eine von den kleinen Aufmerksamkeiten, welche aus der Zeit stammten, als der Pastor noch schwer an seinen Amtspflichten trug und das Bedürfniß fühlte, sich zu Hause auszusprechen, und welche die liebende Gattin seitdem beibehielt. Obgleich die Zeiten sich verändert hatten und das Predigen und die Krankenbesuche ihn wenig mehr aufregten, würde Nadering doch bei seiner Nachhausekunft die freundlichen Augen nicht gern entbehrt haben, die ihn bewillkommten. Die Frau Pastorin kümmerte sich nicht darum, daß die Welt ihr nachsagte, sie vergöttere ihren Mann! Sie wußte recht gut, daß die Welt oberflächlich urtheilt, und man sich dadurch nicht irre machen lassen darf. Aber wenn Nadering nach Hause kam, sollte er sich auch über sie freuen, und nun brachte er jemand Anderes mit, und nicht allein jemand Anderes, sondern sogar diesen katholischen Maler!

Dieser katholische Maler! Wenn es dabei noch bliebe, aber man wußte von sehr gut unterrichteter Seite, daß er ein feiner Jesuit war, so fein, daß er sich den Anschein gab, als habe er mit kirchlichen Angelegenheiten gar nichts zu thun, während doch der Papst ihm den besonderen Auftrag gegeben hatte, sich so zu halten, damit er auf diese Weise all' die schändlichen Pläne könne ausführen helfen, welche die Jesuiten im Sinne hatten, namentlich in Bezug auf die protestantischen Bewohner von Helmstadt.

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