Kostja seufzte und machte ein gequältes Gesicht. Er litt, er triefte vor Reue. In seiner Stimme schwang so viel Zärtlichkeit, daß die 6a entzückt aufheulte.
Anja legte die Kreide in den Kasten und schlich mit gesenktem Blick auf ihren Platz. Sie begnügte sich mit der äußersten Kante der Bank, als hätte sie Angst, Boris könnte beißen. Boris wurde rot. Er ballte die Fäuste. Ich fürchtete, er werde gleich auf Radushny losschlagen.
Unsere 6a, die einhelligste Klasse der Schule, wenn es darum ging, Lärm zu machen, hatte noch nicht gelernt, kameradschaftlich zu sein. Sie war vergnügt und lachte. Alles andere hatte keine Bedeutung. Was in Boris Jewremow vorging, merkte keiner. Die Sache mit der Gleichung mußte auf dem schnellsten Wege aus der Welt geschafft werden, ehe es zu spät war.
„Hört zu, Freunde", sagte ich, als sich das Gelächter etwas gelegt hatte, „wie ihr euch gegenüber Anja und Boris verhaltet, ist übel."
Ich hielt eine Rede, eine schwungvolle Rede, und führte aus, daß man auf Gemeinheit mit Gemeinheit antworten kann, auf einen Schlag mit einem Gegenschlag. Was aber soll der tun, über den sich die anderen lustig machen? Wenn mir jemand in Wort oder Tat zu nahe tritt, werde ich mich wehren. Dem Gelächter ist man schutzlos preisgegeben.
Ausgiebig und eindringlich führte ich ihnen das Verwerfliche ihres Tuns vor Augen. Ich war begeistert von meiner Rede, insbesondere darum, weil es mir gelang, die richtigen Worte zu finden. Meine Schüler hörten mir aufmerksam zu. Als ich geendet hatte und fragte: „Ist das jetzt klar?" erscholl es im Chor: „Jaaa."
An diesem Tage konnte mir nichts meine ausgezeichnete Laune verderben.
Als ich am nächsten Morgen in die Klasse trat, hatte jemand auf den Tafelrand geschmiert: A + B = Liebe. Ich sah es sofort.
Mein Blick huschte über lauter Unschuldsmienen. Die Schüler saßen wie Engel, mit gefalteten Händen und aufmerksamen, ehrlichen, ernsten Augen, das aufgeschlagene Heft und ein Löschblatt vor sich auf der Bank. Die Schmiererei am Tafelrand hatte natürlich niemand gesehen. Sie waren ja hier, um zu lernen, ausschließlich um zu lernen.
Daß meine gestrige Rede auf unfruchtbaren Boden gefallen war, stimmte mich zornig. Ich war drauf und dran, eine strenge Untersuchung der Angelegenheit in die Wege zu leiten, kam aber, während ich das Klassenbuch aufschlug, zu der Einsicht, daß dies wohl doch nicht die richtige Methode sei. Meine Worte hatten das Gegenteil von dem bewirkt, was sie erreichen sollten, und die Aufmerksamkeit der Klasse erst recht auf diese törichte Gleichung gelenkt. Ich zog es vor, mit Stillschweigen über die Sache hinwegzugehen und mich auf eine sachliche Feststellung zu beschränken: „Ordnungsdienst, die Tafel ist nicht gewischt."
Ein Seufzer der Enttäuschung lief durch die Klasse. Schade...
In der Pause kam Boris zu mir.
„Juri Wassiljewitsch, darf ich mich auf einen anderen Platz setzen?"
Ich war der Klassenleiter und hätte fragen müssen: Weshalb? Aber die Geschichte hing mir nachgerade zum Halse heraus. Ich war es überdrüssig zu tun, als wüßte ich nicht, was gespielt wurde.
So sagte ich nur: „Gut, zieh um."
„Danke", murmelte Boris, ohne mich anzusehen, und ging fort.
Während der großen Pause kam Kolja Bokow ins Lehrerzimmer.
Er bat mich in eine Ecke, wo wir nicht gehört werden konnten, und flüsterte:
„Juri Wassiljewitsch, was die Klasse macht, ist nicht richtig. Ich meine a + b."
„Es ist abscheulich. Du kannst den anderen bestellen, falls sich das noch einmal wiederholt..."
„Natürlich", flüsterte Kolja, „was geht es uns an, wenn sich zwei verlieben."
Er beobachtete mich, um zu sehen, welchen Eindruck seine Worte machten.
„Gut. Und was willst du hier?"
„Es gehört sich nicht für einen Pionier", erwiderte Kolja.
Ein merkwürdiger Bursche, dieser Bokow, ordentlich, sauber, bescheiden, aber er liebte es, gewichtige Worte in den Mund zu nehmen. Das hatte ich schon mehrmals feststellen können. Ich wußte auch, daß er Radushny heimlich haßte. Vergangenes Jahr hatten beide lange gewetteifert, wer wohl der witzigere sei. Die anderen mochten Koljas Späße nicht sonderlich. Sie waren ihnen zu gesucht, zu offensichtlich gewollt. Radushny kam auf den ersten Platz.
Ich überlegte: Worauf will er nur hinaus? „Du hast ganz recht", erwiderte ich, „es gehört sich nicht für einen Pionier. Nur verstehe ich nicht, weshalb du mit mir darüber sprichst. Das mußt du demjenigen sagen, der solchen Unfug an die Tafel schreibt. Weißt du, wer es war?" Bokow wurde rot.
„Nun — eigentlich — das heißt ...", stotterte er. „War es Radushny?"
„Nun — eigentlich — habe ich es nicht selber gesehen."
Er ließ den Kopf hängen und fingerte an der Gürtelschnalle. Sein ganzes Gebaren deutete darauf hin, daß ich ins Schwarze getroffen hatte.
Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn du es nicht gesehen hast, brauchen wir kein Wort mehr darüber zu verlieren. Geh in die Klasse."
Nach dem Unterricht hielt ich Radushny zurück. „Hör zu, Kostja, wenn ich auf der Tafel noch einmal solchen Blödsinn sehe, geht es einem Schüler schlecht."
„Welchem Schüler?"
„Dem Schmierfinken."
„Eigentlich ist doch nichts dabei", meinte Kostja. „Ein kleiner Scherz. Aber die beiden zieren sich — unheimlich. Sie wissen ja selbst, wenn jemand keinen Spaß verträgt, zieht man ihn gern noch mehr auf." Ich war empört. „Warum macht ihr euch über sie lustig?"
„Na ja, sie gehen immer zusammen und schreiben Briefe. Wenn man sich täglich sieht, braucht man die Post nicht zu belästigen. Das ist lächerlich. Sehen Sie mal, Juri Wassiljewitsch, dort ist die Melnikowa."
Ich schaute durchs Fenster. Anja ging langsam über den Schulhof. Sie schritt durchs Tor, blickte sich um und verschwand.
„Und an der Ecke steht Jewremow. Er denkt, wir wissen das nicht. Sehen Sie, dort, am Zaun."
Zwischen den Häusern tauchte Anja wieder auf, nicht mehr allein, in Begleitung von Boris.
„Was habe ich gesagt!" rief Kostja triumphierend aus.
Ich erwiderte trocken: „Also, Radushny, entweder nie mehr ein Plus an der Wandtafel, oder..."
„Damit habe ich nichts zu tun", erklärte Kostja unbekümmert.
„Wer sonst?"
„Keine Ahnung."
„Das glaube ich dir nicht."
„Bitte sehr." Kostja machte ein gekränktes Gesicht. „Wenn was los ist, steckt Radushny dahinter. Das bin ich gewöhnt."
Auf seine beleidigte Miene gab ich nicht viel. Ich kannte ihn lange genug, um zu wissen, daß er die Gabe besaß, jederzeit den Ausdruck anzunehmen, der am zweckmäßigsten schien. Offenbar mißtraute ich ihm zu Recht. Von Stund an hörte der Unfug mit „a + b" auf.
Ein Monat verging. Ich wüßte nicht, daß in der Klasse noch jemand von Anja und Boris gesprochen hätte. Die beiden trafen sich nicht mehr heimlich, sondern verließen zusammen das Schulgebäude, obwohl sie nach wie vor getrennt saßen. Der Unterricht verlief ohne Störungen. Ich war zufrieden.
Doch ich sollte mich zu früh gefreut haben.
Unser Städtchen besteht zur Hälfte aus Holz- und zur Hälfte aus Steinhäusern. Nach drei Seiten ist der Ort von hohen Hügelketten eingeschlossen, die vierte gibt den Weg zum Meer frei, das sich in einer breiten Bucht herandrängt. Unsere Schule steht auf einem Hügel in unmittelbarer Nähe der Bucht. Das ist ein Unglück.
Durch den Gürtel der Nadelbäume dringt das Gerassel von Ankerketten und das Knattern der Motorboote herüber. Wenn die Kinder durch die Klassenfenster einen Trawler erspähen, rätseln sie herum, wo er hinfährt. Der Streit beginnt zwar in der Pause, wird aber nicht selten während der Stunde fortgesetzt.
Links von der Schule fließt die Niwa. Auch das ist ein Unglück. Die Flutwellen dringen in den Fluß ein. Diejenigen Schüler, die am Fenster sitzen, finden ein unerklärliches Vergnügen daran, die Bewegungen des Wasserspiegels zu verfolgen und herumzuraten, wie lange es dauern wird, bis die kleine Insel in der Mitte der Niwa nicht mehr zu sehen ist.
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