»Dieser Herr hat das Wort!« erklärte der Vorsitzende gerade, indem er auf die altväterische Persönlichkeit mit den drei oder vier Westen deutete. Julian hätte es für natürlicher erachtet, wenn der Herr mit den Westen beim Namen genannt worden wäre. Er nahm sein Papier vor und schrieb drauflos. Im ganzen brachte er es im Laufe der Sitzung auf sechsundzwanzig Seiten.
Der Herr mit den Westen und dem altväterischen Aussehen – offenbar ein Bischof – lächelte häufig während seiner Rede. Dann nahmen seine blinzelnden Augen immer einen eigentümlichen Glanz und einen weniger unbestimmbaren Ausdruck denn sonst an. Man ließ diese Persönlichkeit vor dem Herzog (vor welchem Herzoge? fragte sich Julian) sprechen, augenscheinlich um eine Art Überblick über die verschiedenen vorhandenen Meinungen zu geben. Julian hatte die Empfindung, daß der Redner unsicher und unschlüssig sein mochte. Dies ward ihm im Laufe der Debatte dann auch vom Herzog vorgeworfen.
Nach etlichen moralisierenden und philosophierenden matten Redensarten sagte er:
»Das edle Britannien hat es sich unter der Führung eines großen Mannes, des unsterblichen Pitt, vierzig Milliarden Franken kosten lassen, um der Revolution Einhalt zu tun. Wenn mir die hier Versammelten ein freies Wort über einen betrüblichen Umstand zugestehen, so muß ich sagen: England hat nicht genügend klar erkannt, daß gegen einen Mann wie Bonaparte, zumal da man ihm lediglich eine Reihe guter Absichten entgegenzustellen hatte, nicht anders als durch Maßregeln gegen seine Person etwas Ordentliches auszurichten war.«
»Schon wieder ein Loblied auf den Mord!« bemerkte der Hausherr.
»Nur keine Sentimentalitäten!« rief der Vorsitzende mißlaunig. Sein Eberauge funkelte. »Fahren Sie fort!« gebot er dem Westenmann.
»Das edle Britannien«, begann der Redner von neuem, »ist heute total niedergebrochen, denn jeder Engländer muß, ehe er sein täglich Brot bezahlt, die Zinsen der vierzig Milliarden aufbringen, die gegen die Jakobiner verbraucht worden sind. Einen Pitt hat England nicht mehr –«
»Es hat den Herzog von Wellington!« sagte eine zweifellos militärische Persönlichkeit, die sich in Positur setzte.
»Bitte Ruhe, meine Herren!« rief der Vorsitzende. »Wenn wir weiter streiten wollen, brauchten wir Herrn Sorel noch nicht hereinkommen zu lassen.«
»Die Vielseitigkeit des Herrn Zwischenredners ist uns nichts Neues!« bemerkte der Herzog, indem er den Ruhestörer, einen ehemaligen napoleonischen General, pikiert ansah. Julian verstand, daß dies eine persönliche, sehr kränkende Anspielung war. Man lächelte allgemein, und der Renegat wurde rot vor Zorn.
»Es gibt keinen Pitt mehr«, wiederholte der Redner im verzweifelten Tone eines Mannes, der es aufgibt, seinen Zuhörern Verständnis beizubringen, »und erstünde auch ein neuer Pitt in England: ein zweites Mal läßt sich ein Volk mit denselben Mitteln nicht düpieren.«
»Aus demselben Grunde ist auch ein zweiter Bonaparte ein Unding für Frankreich!« warf der militärische Störenfried von neuem ein.
Diesmal wagten weder der Vorsitzende noch der Herzog ihren Unwillen kundzugeben, obschon Julian in ihren Augen zu lesen glaubte, daß sie große Lust dazu hegten. Sie schlugen beide die Blicke nieder, wenn auch der Herzog nicht umhinkonnte so laut zu seufzen, daß es jedermann hörte.
Der Referent nahm dies übel.
»Ich rede offenbar bereits zu lange«, bemerkte er brüsk, wobei er seine lächelnde Höflichkeit und seine gemessene Ausdrucksweise vergaß, die Julian als Charakteristika seines Wesens aufgefaßt hatte. »Man wünscht, daß ich zu Ende komme. Meinetwegen, meine Herren! Ich will mich kurz fassen. In dürren Worten sage ich Ihnen also: England hat keinen roten Heller mehr übrig für die gute Sache. Selbst ein Pitt mit all seinem Genie könnte die kleinen englischen Agrarier kein zweites Mal an der Nase herumführen, dieweil sie wissen, daß ihnen der kurze Feldzug von Waterloo allein eine Milliarde Franken zu stehen gekommen ist. Da ich ohne Umschweife reden soll…«, der Redner ereiferte sich mehr und mehr, »… so erkläre ich Ihnen: Helft euch selbst! England hat kein Geld mehr für eure Interessen. Und wenn England kein Geld gibt, so können Österreich, Rußland und Preußen, die wohl Courage, aber kein Geld haben, zur Not einen oder zwei Feldzüge gegen Frankreich unternehmen, aber mehr nicht. Wohl ist zu hoffen, daß die von den Jakobinern aufgebotenen Rekruten im ersten und vielleicht auch im zweiten Feldzug geschlagen werden. Aber im dritten – und das sage ich Ihnen auf die Gefahr hin, von Ihnen als Revolutionär gescholten zu werden – im dritten Feldzug werden wir wiederum die Soldaten von 1794 haben, die ihr Rekrutentum von 1792 gründlich abgelegt hatten …«
Diesmal wurde er von drei oder vier Seiten zugleich unterbrochen.
»Herr Sorel!« rief der Vorsitzende Julian zu. »Schreiben Sie im Nebenzimmer Ihr bisheriges Protokoll in die Reinschrift!«
Es war, wie schon gesagt, sechsundzwanzig Seiten lang.
Ungern verließ Julian den Saal. Der Redner hatte gerade angefangen, von Möglichkeiten zu sprechen, über die er selber fast fortwährend nachdachte. »Sie haben Angst, daß ich mich über sie lustig machen könnte«, dachte er. Als man ihn wieder hereinrief, sprach Herr von La Mole. In einem Ernst, der Julian sehr spaßig vorkam, weil er ihn ganz anders kannte, deklamierte der Marquis soeben:
»Ja, meine Herren, gerade in bezug auf unser Volk kann man wie der Fabeldichter fragen: Wird es ein Gott oder weiß der Teufel was? und mit dem Dichter antworten: Ein Gott! Nehmen Sie an, dies feine sinnreiche Wort sei an Sie gerichtet! Beweisen wir unsre eigne Kraft, und das edle Frankreich unsrer Ahnen wird aus der Asche auferstehen. Wir werden es sehen, wie es vor dem Tode Ludwigs XVI. war. England, zum mindesten seine edlen Lords, verabscheut das ignoble Jakobinertum ebenso wie wir. Ohne das englische Geld können Österreich und Preußen höchstens zwei oder drei Schlachten schlagen. Wird das zu einer erfolgreichen Okkupation genügen? Ich glaube es nicht…«
Hier wurde auch er unterbrochen, aber der Zwischenruf ward durch allgemeines Zischen abgelehnt. Wiederum war es der ehemalige kaiserliche General, der nach dem blauen Bande strebte und sich unter den Verfassern der Geheimen Note hervortun wollte.
» Ich glaube es nicht!« wiederholte Herr von La Mole, nachdem sich der Sturm gelegt hatte, wobei er das Ich mit einer Unverfrorenheit lang zog, die Julian entzückte. »Er ist ein brillanter Komödiant!« dachte er bei sich, indem er seine Feder mit der nämlichen Schnelligkeit über das Papier gleiten ließ, mit der Herr von La Mole sprach. Mit dem einen treffenden Worte hatte er die zwanzig Feldzüge des Überläufers vernichtet.
»Es ist nicht allein das Ausland«, fuhr der Marquis in gemessenem Tone fort, »dem wir vielleicht eine abermalige Okkupation verdanken. Alle die jungen Köpfe, von denen die Brandreden im Globe herrühren, alle diese werden den Stamm von drei-bis viertausend jungen Kompanieführern stellen, unter denen sich ein Kléber, ein Hoche, ein Jourdan, ein Pichegru finden kann …«
»Ehre, wem Ehre gebührt!« bemerkte der Vorsitzende.
»Es ist höchste Zeit«, hob Herr von La Mole von neuem an, »daß es in Frankreich zwei Parteien gibt, aber nicht nur dem Namen nach, sondern wirklich zwei säuberlich geschiedene Parteien. Auf der einen Seite die Zeitungsschreiber, die Wähler, die öffentliche Meinung, mit einem Worte: die Jugend und alles, was blaue Wunder von ihr erwartet. Während sie sich am Lärm ihrer eigenen hohlen Worte berauscht, haben wir den realen Vorteil, das Budget zu verzehren…«
Wiederum erfolgte ein Zwischenruf.
»Sie, mein Herr«, rief Herr von La Mole dem Betreffenden voll Würde und Freimut zu, »Sie verzehren nicht – nein, da Ihnen dieser Ausdruck mißfällt, nein – Sie verschlingen vierzigtausend Franken aus dem Staatsbudget und achtzigtausend von der Zivilliste!
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