Mit einem Schreckensschrei sprang die Marquise von ihrem Stuhl auf und besah sich die Scherben ihrer geliebten Vase in der Nähe. »Es war ein altjapanisches Stück«, jammerte sie. »Es stammt von meiner Großtante, der Äbtissin von Chelles. Es war ein Geschenk der Holländer an den Regenten, den Herzog von Orleans. Von ihm bekam es seine Tochter …«
Mathilde stellte sich neben ihre Mutter. Sie freute sich, daß die ihrer Ansicht nach mordsgarstige Vase entzwei war.
Julian blieb stumm und sah durchaus nicht erschrocken aus. Als er Mathilde dicht neben sich bemerkte, sagte er leise zu ihr: »Die Vase ist für ewig dahin, ganz wie das Gefühl, das einst der Gebieter meines Herzens war. Ich bitte Sie um Entschuldigung für alle die Torheiten, zu denen es mich verführt hat.«
Damit ging er hinaus.
Als er fort war, sagte Frau von La Mole: »Man könnte wahrhaftig meinen, Herr Sorel sei stolz und zufrieden ob seiner Missetat!«
Die Worte trafen Mathildens Herz. »Wahrlich«, sagte sie sich, »meine Mutter sagt mehr, als sie ahnt. Stolz und zufrieden … das ist seine Stimmung!«
Mit einem Male freute sie sich nicht mehr über die Episode am Abend vorher. »Nun ist alles aus!« sagte sie sich, ihre Ruhe mit Mühe wahrend. »Das soll mir ein warnendes Beispiel sein! Mein Irrtum war schändlich, demütigend. Bis zu meiner letzten Stunde wird er mich vor weiterer Torheit hüten!«
Julian hinwiederum grübelte bei sich: »Ach, daß ich die Wahrheit gesagt hätte! Die Liebe, die ich für diese Bacchantin gefühlt, sie quält mich noch immer!«
In der Tat war seine Leidenschaft nicht erloschen, wie er dies erhofft hatte; im Gegenteil, sie machte starke Fortschritte.
»Mathilde ist toll«, sagte er sich. »Gewiß! Aber ist sie darum weniger anbetungswürdig? Sie ist schöner denn je. Was einem die erlesenste Kultur an lebendigen Freuden nur bieten kann, ist auf das herrlichste in ihr vereint!«
Die Erinnerung an das vergangene Glück ergriff ihn mit aller Macht und zerstörte ihm alsbald das ganze Werk seiner Vernunft. Der Verstand ist waffenlos gegen solche Erinnerungen, und ernstliche Vorstöße verklären nur ihre Schönheit.
Vierundzwanzig Stunden nach dem Bruch der alten blauen Vase war Julian entschieden einer der unglücklichsten Menschen.
Der Marquis hatte Julian rufen lassen. Er sah verjüngt aus. Seine Augen leuchteten.
»Sie sollen ein wunderbar gutes Gedächtnis haben«, sagte er zu Julian. »Sind Sie imstande, vier Seiten auswendig zu lernen und in London aufzusagen? Wortgetreu?«
Der Marquis spielte nervös mit der neuesten Quotidienne, wobei er sich vergeblich bemühte, seinen auffällig ernsten Gesichtsausdruck aufzuheitern. So ernst hatte ihn Julian noch nie gesehen.
Julian, Weltmann genug, war sich sofort klar, daß er auf den Plauderton, den Herr von La Mole erkünstelte, eingehen mußte.
»Diese Nummer der Quotidienne ist wahrscheinlich nicht besonders amüsant, aber wenn Eure Exzellenz es gestatten, werde ich sie morgen ganz gehorsamst von Anfang bis zu Ende auswendig vortragen.«
»So? Auch die Anzeigen?«
»Zu befehlen! Es soll keine Silbe fehlen.«
»Können Sie mir darauf Ihr Wort geben?« erwiderte der Marquis, plötzlich unverhohlen ernst.
»Gewiß, Eure Exzellenz! Nichts als die Angst, mein Wort nicht zu halten, könnte mich aus dem Konzept bringen.«
»Eins habe ich gestern vergessen, Ihnen zu sagen«, hob der Marquis von neuem an. »Ich fordre keinen Eid von Ihnen, daß Sie niemals davon sprechen, was Sie zu hören bekommen. Ich kenne Sie zu gut; um Sie mit derlei zu kränken. Ich habe mich für Sie verbürgt. Ich werde Sie mit in einen Saal nehmen, wo zwölf Herren zusammenkommen. Sie sollen sich genau merken, was jeder einzelne sprechen wird. Machen Sie sich aber keine Sorge: es wird keine regellose Unterhaltung sein, sondern es wird immer nur einer reden, wenn auch nicht in bestimmter Reihenfolge …«
Der Marquis hatte seinen gewohnten leichten vornehmen Plauderton wiedergewonnen, der an ihm die reinste Natürlichkeit war.
»Während wir beraten«, fuhr er fort, »machen Sie sich Notizen, etwa zwanzig Seiten. Hinterher kommen Sie wieder mit hierher, wo wir diese zwanzig Seiten in vier zusammenfassen. Dies werden die vier Seiten sein, die Sie mir morgen aus dem Kopie hersagen sollen. Also nicht diese ganze Quotidienne! Danach werden Sie sofort abreisen, und zwar sollen Sie mit einer Extrapost fahren, wie ein junger Herr, der zu seinem Vergnügen eine Reise macht. Ihr Hauptaugenmerk muß darauf ausgehen, niemandem aufzufallen. Ich schicke Sie zu einer hohen Persönlichkeit. An Ort und Stelle müssen Sie besonders gewandt sein! Es handelt sich darum, die ganze Umgebung dieser Persönlichkeit zu täuschen, denn unter ihren Sekretären und Dienern gibt es Leute, die im Solde unsrer Gegner stehen und unsre Agenten belauern und abfangen. Sie bekommen nichts mit als einen belanglosen Empfehlungsbrief. In dem Augenblicke, wo Seine Durchlaucht den Blick auf Sie richtet, ziehen Sie meine Taschenuhr, die ich Ihnen für die Reise mitgebe. Nehmen Sie sie gleich jetzt und geben Sie mir so lange die Ihre! Der Herzog wird die vier Seiten, die Sie auswendig gelernt haben und ihm diktieren, eigenhändig nachschreiben. Hiernach, aber – wohlgemerkt! – nicht früher, können Sie auf Befragen Seiner Durchlaucht von der Sitzung erzählen, der Sie beiwohnen werden.
Unterwegs, auf Ihrer langen Reise, werden Sie etwas Zerstreuung insofern finden, als es zwischen Paris und dem Wohnsitze Seiner Durchlaucht Leute gibt, die Herrn Abbé Sorel am allerliebsten niederknallen. Damit wäre seine Sendung vereitelt und mir ein bedeutsamer Zeitverlust zugefügt. Wie sollte ich Ihren Tod erfahren? Bei allem Eifer können Sie mir ihn doch nicht depeschieren.
Beeilen Sie sich jetzt und kaufen Sie einen vollständigen Anzug. Kleiden Sie sich so, wie die Mode vor zwei Jahren war … Sie müssen heute abend schlecht angezogen gehen. Auf der Reise hingegen werden Sie sich wie gewöhnlich kleiden … Sie staunen? Erregt es Ihr Argwohn …? Ja, Verehrtester, unter Umständen veranlaßt es eine der ehrbaren Persönlichkeiten, deren Meinung Sie hören werden, daß Ihnen in irgendeinem guten Gasthofe, wo Sie zur Nacht essen, zum mindesten Opium verabreicht wird …«
»Am besten mache ich da vielleicht einen Riesenumweg«, erlaubte sich Julian zu bemerken. »Vermutlich geht die Reise nach Rom …«
Herr von La Mole zog ein hochmütiges, unwilliges Gesicht, wie es Julian seit der Zeremonie zu Hohen-Bray nicht wieder an ihm zu sehen bekommen hatte.
»Das werden Sie erfahren, Herr Sorel, wenn ich es für angebracht finde, es Ihnen mitzuteilen. Ich liebe keine Fragen.«
»Es sollte keine sein«, stammelte Julian. »Das versichre ich Eurer Exzellenz. Ich habe vor Eifer laut gedacht. Meine Gedanken suchen nach dem sichersten Wege …«
»Ihre Gedanken waren offenbar nicht, wo sie sein sollten … Vergessen Sie nie, daß ein Vertrauensmann, zumal einer in Ihrem Alter, das Vertrauen stets an sich herankommen lassen muß.«
Julian war geknickt. Er hatte unrecht. Seine Eigenliebe suchte nach einer Entschuldigung, fand aber keine.
»Wissen Sie«, fügte der Marquis hinzu, »wenn man eine Dummheit gemacht hat, schickt man immer das Herz und nicht das Hirn ins Gefecht.«
Eine Stunde später stellte sich Julian in einem spießerlichen Anzug wieder im Vorzimmer des Marquis ein. Er hatte einen altmodischen Rock an und eine Krawatte von zweifelhaftem Weiß. In seiner ganzen Erscheinung lag etwas Schulmeisterliches.
Als ihn der Marquis sah, lachte er herzlich. Erst jetzt war Julians Rechtfertigung gelungen. »Wenn mich dieser junge Mann verrät«, dachte er bei sich, »dann kann man überhaupt niemandem mehr trauen. Und doch muß man einen Vertrauten haben, wenn man handeln will. Mein Sohn und seine vortrefflichen Freunde … alles derselbe Schlag: mutig wie die Löwen und unbedingt zuverlässig … Wenn es sein muß, lassen sie sich auf den Stufen des Thrones totschießen … Sie haben Geschick zu allem … nur nicht zu dem, was im Augenblick not tut! Der Teufel soll mich holen, wenn ich einen unter ihnen fände, der vier Seiten auswendig lernt und siebzig Meilen reist, ohne daß man seine Spur verfolgen kann! Norbert opfert sein Leben jede Stunde, wie so mancher seiner Vorfahren. Aber das kann jeder Rekrut –«
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