Der Marquis verlor sich in Grübeleien. »Und wenn es ein Gang In den Tod wäre…« Er seufzte auf. »…das kann dieser Sorel schließlich ebensogut wie mein Sohn!«
»Jetzt aber fort!« rief er. Man sah ihm an, daß er einen lästigen Gedanken verscheuchte.
»Eure Exzellenz«, sagte Julian, als beide in den Wagen stiegen, »während ich auf meinen Rock warten mußte, habe ich die erste Seite der heutigen Quotidienne auswendig gelernt.«
Der Marquis ergriff die Zeitung, und Julian sagte auf, ohne den geringsten Fehler dabei zu machen.
»Schön!« sagte Herr von La Mole lakonisch, wie er an diesem Abend war. Bei sich dachte er: »Beim Hersagen entgeht ihm, durch welche Straßen wir fahren.«
Sie betraten einen großen, ziemlich trübseligen Saal, der bis zur halben Höhe Holzbekleidung hatte und darüber mit grünem Stoff tapeziert war. In der Mitte des Raumes stellte ein mürrischer Lakai eben einen großen Eßtisch auf, den er alsbald in einen Arbeitstisch verwandelte, indem er ihn mit einem großen grünen Tuch bedeckte. Es war voller Tintenflecke und offenbar aus irgendeinem Ministerium geholt.
Der Herr des Hauses war ein übergroßer Mensch. Sein Name blieb ungenannt. Julian hatte den Eindruck, daß er aussah und redete wie jemand, der seine Mahlzeit verdaut.
Auf einen Wink des Marquis war Julian am untern Ende des grünen Tisches stehengeblieben. Um dieses Fernbleiben zu motivieren, begann er Federn zu schneiden. Dabei schaute er sich verstohlen um und erblickte sieben Personen, im Gespräch miteinander, aber er konnte sie nur von rückwärts sehen. Zwei von ihnen redeten augenscheinlich mit dem Marquis wie Gleichgestellte, die andern mit mehr oder weniger Respekt.
Eine neue Persönlichkeit trat ein, ohne daß eine Anmeldung erfolgte. »Sonderbar!« dachte Julian. »Hier meldet man nicht an. Ob man diese Vorsicht mir zu Ehren walten läßt?«
Sämtliche Anwesende erhoben sich und gingen dem Ankömmling entgegen. Er trug denselben sehr hohen Orden wie zwei oder drei von den Herren, die schon da waren. Man sprach im Flüstertone.
Julian konnte den Zuletztgekommenen nur nach seinem Gesicht und seinem Benehmen beurteilen. Er war klein und dick, hatte eine rote Hautfarbe und funkelnde Augen. Der Vergleich mit einem wilden Eber drängte sich geradezu auf.
Julians Aufmerksamkeit ward abermals abgelenkt. Eine gänzlich andersartige Person erschien: ein großer, sehr hagerer Herr, der drei oder vier Westen übereinander trug. Er hatte einen süßlichen Blick und höfliche Manieren.
»Ganz wie der alte Bischof von Besançon«, dachte Julian. Der dicke Herr war sichtlich ein hoher Geistlicher. Obgleich er nicht viel älter als fünfzig Jahre sein mochte, höchstens fünfundfünfzig, machte er doch den allerwürdigsten Eindruck.
Jetzt trat der Bischof von **** in den Saal. Julian merkte, wie überrascht der junge Prälat war, als er beim Mustern der Anwesenden den Sekretär erkannte. Seit der Zeremonie zu Hohen-Bray hatte er nicht wieder mit ihm gesprochen. Sein erstaunter Blick machte Julian verlegen und ärgerlich. »Wie mag es nur kommen?« fragte er sich. »Sobald ich jemanden persönlich kennengelernt habe, gereicht mir dies immer zum Nachteil. Alle die hohen Herren, die ich zum ersten Male sehe, genieren mich gar nicht. Aber der Blick dieses jungen Bischofs geht mir durch Mark und Bein. Ach, es ist nicht anders. Ich bin ein Sonderling, ein Unglückskind!«
Bald darauf kam ein kleiner, auffällig schwarzhaariger Herr geräuschvoll herein. Schon an der Tür begann er zu sprechen. Er hatte eine gelbe Gesichtsfarbe und sah ein wenig verrückt aus. Sofort bei der Ankunft dieses sichtlich berüchtigten Schwätzers bildeten sich Gruppen. Offenbar wollte man seinen Redereien entgehen.
Die Herren entfernten sich, vom Kamin und näherten sich dem unteren Ende des Tisches. Julian wußte vor Verlegenheit nicht mehr, wie er sich verhalten sollte. Er mochte tun, was er wollte: immer hörte er alles, was gesprochen wurde, und sowenig er auch die Sache im ganzen verstand, war er sich doch bewußt, daß man unverblümt von hochwichtigen Dingen redete, an deren Geheimhaltung den hohen Herren, die er offenbar vor sich hatte, alles gelegen sein mußte.
Mit möglichster Langsamkeit hatte Julian bereits einige zwanzig Federn geschnitten. Das konnte er nicht gut weiter betreiben. Vergeblich blickte er Herrn von La Mole an, um einen Befehl zu erhaschen. Der Marquis hatte ihn vergessen.
Julians Verlegenheit wuchs, je merkwürdigere Dinge er vernahm.
Der Lakai kam hereingestürzt und meldete: »Seine Durchlaucht der Herzog von***!«
»Halts Maul, Schafskopf!« sagte der Eintretende, und zwar so würdevoll, daß Julian unwillkürlich auf den Gedanken kam, die Hauptfähigkeit dieser erlauchten Persönlichkeit bestehe darin, Lakaien anzugrobsen. Er nahm den Ankömmling in Augenschein, sah aber sofort wieder weg. Er hatte ihn eben insgeheim so vorzüglich charakterisiert, daß er Angst bekam, seine Blicke könnten eine Indiskretion begehen.
Der Herzog war ein Fünfziger, ging geckenhaft angezogen und hatte einen hüpfenden Gang. Seine Nase war groß, das Gesicht seines langschädligen Kopfes vorspringend und auffällig schmal. Alles in allem machte er einen enorm vornehmen und enorm geistlosen Eindruck. Sein Erscheinen hatte die Eröffnung der Sitzung zur Folge.
Die Stimme des Herrn von La Mole schreckte Julian aus seiner physiognomischen Studie.
»Meine Herren, ich stelle Ihnen Herrn Abbé Sorel vor«, sagte der Marquis, »den Besitzer eines erstaunlichen Gedächtnisses. Ich habe ihn erst vor einer Stunde in Kenntnis gesetzt, mit was für einer Mission er beehrt werden soll. Um mir eine Probe seiner Fähigkeit zu bieten, hat er gleich die erste Seite der Quotidienne auswendig gelernt.«
»Auf der die sonderbare Neuigkeit über den armen N*** steht«, bemerkte der Hausherr und griff eifrig nach der ihm hingehaltenen Zeitungsnummer. Indem er Julian einen Blick zuwarf, der ihm imponieren sollte, aber nur lächerlich wirkte, rief er ihm zu: »Lassen Sie sich hören, Herr Abbé!«
Alle verstummten, und aller Augen richteten sich auf Julian. Er machte seine Sache so gut, daß der Herzog nach zwanzig Zeilen sagte: »Es genügt!«
Der kleine Herr mit dem Wildschweinsblick nahm Platz. Er hatte den Vorsitz, denn kaum saß er, als er auf einen Spieltisch deutete und Julian ein Zeichen gab, ihn heranzutragen. Julian setzte sich mit seinem Schreibgerät daran. Er übersah den grünen Tisch und zählte zwölf Personen.
»Herr Sorel«, begann der Herzog, »ziehen Sie sich in das Nebenzimmer zurück! Man wird Sie rufen.«
Der Hausherr wurde sichtlich unruhig. »Die Läden sind nicht geschlossen«, sagte er halblaut zu seinem Nachbar. Laut gab er Julian die törichte Weisung: »Sie brauchen nicht gerade zum Fenster hinauszusehen.«
»Hier bin ich zum mindesten mitten in einer Verschwörung«, dachte Julian. »Zu meinem Glück ist’s keine solche, die auf dem Grève-Platz endete. Und wenn die Geschichte auch etwas gefährlich wäre: ich bin dem Marquis das und noch mehr schuldig!«
Indem er dies bedachte, prägte er sich die Örtlichkeit so ein, daß er sie nie wieder vergessen konnte. Jetzt erst fiel ihm ein, daß dem Kutscher beim Einsteigen das Ziel der Fahrt nicht laut zugerufen worden war, und daß der Marquis mit einer Droschke gefahren war, was er sonst nie tat.
Julian blieb geraume Zeit seinen Gedanken überlassen. Er befand sich in einem Salon mit Tapeten von rotem Samt und breiten Gold-Leisten. Auf dem Spiegeltisch stand ein Kruzifix aus Elfenbein, und auf dem Kaminsims lag Maistres Papstbuch, in einem Prunkeinband mit Goldschnitt. Julian nahm es zur Hand, um nicht wie ein Horcher dazustehen. Hin und wieder drangen laute Stimmen aus dem Beratungszimmer zu ihm. Endlich öffnete sich die Tür, und er ward gerufen.
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