Damit war er zu Ende und setzte sich wieder. Tiefe Stille trat ein.
»Ein guter Schauspieler!« dachte Julian. Aber er irrte sich wie gewöhnlich, weil er den Leuten zu viel Geist zutraute. Angeregt durch die Debatte eines so lebhaften Abends und vor allem durch die Offenherzigkeit der Erörterungen, glaubte Herr von Nerval in diesem Augenblick tatsächlich an seine Mission. Er war ein sehr mutiger Mann, aber kein Genie.
Während der Stille nach dem schönen Worte: »Das werde ich vollbringen!« – schlug es Mitternacht. Im Klang der Standuhr lag etwas Erhabenes, Unheimliches. Julian war bewegt.
Alsbald fing die Debatte mit vermehrter Heftigkeit und geradezu unglaublicher Harmlosigkeit von neuem an. Bisweilen hatte Julian den Gedanken: »Diese Leute müßten mich eigentlich umbringen! Wie können sie solche Dinge vor einem Plebejer erörtern?«
Es schlug zwei Uhr, und man redete immer noch. Der Hausherr war längst eingenickt. Der Marquis von La Mole mußte klingeln und den Befehl geben, die Kerzen zu erneuern. Um drei Viertel zwei Uhr war der Minister von Nerval gegangen, nicht ohne sich Julians Gesicht in einem der hohen Spiegel gründlich eingeprägt zu haben. Als er ging, atmeten alle andern sichtlich auf.
Während neue Kerzen eingesetzt wurden, raunte der Westenmann seinem Nachbarn leise zu: »Weiß der Teufel, was der Mensch Seiner Majestät hinterbringen wird. Er ist imstande, uns lächerlich zu machen und uns Steine in den Weg zu legen.«
»Das muß man sagen«, meinte der andre. »So unverschämt, so dreist ist nicht gleich wieder einer. Sich hier zu zeigen! Ehe er das Ministerium bekam, da war er hier völlig am Platze. Aber das Portefeuille ändert alles. Als Minister bekommt man ganz andre Interessen. So viel Takt müßte er eigentlich haben.«
Kaum war der Minister hinaus, da fielen dem napoleonischen General die Augen zu. Er begann von seiner Gesundheit und seinen Verwundungen zu reden, sah nach der Taschenuhr und ging ebenfalls.
»Ich möchte wetten«, sagte der Westenmann, »er rennt dem Minister nach. Er wird sich entschuldigen, hier gewesen zu sein, und doch so tun, als sei er der Haupthahn.«
Als die verschlafenen Diener die Kerzen erneuert hatten, forderte der Vorsitzende auf: »Kommen wir endlich zu einem Beschluß, meine Herren! Versuchen wir nicht länger, einander zu überzeugen. Überlegen wir uns den Wortlaut der Note, die in achtundvierzig Stunden unsern auswärtigen Freunden vorliegen soll. Man hat die Minister erwähnt. Jetzt, wo Herr von Nerval nicht mehr anwesend ist, können wir es aussprechen. Was gehen uns die Minister an? Wir werden ihnen unsern Willen aufzwingen.«
Der Kardinal stimmte verschmitzt lächelnd zu.
»Nichts ist meiner Ansicht nach leichter, als unsre Lage in ein paar Worte zu fassen«, sagte der junge Bischof von **** voll verhaltener Glut des höchsten Fanatismus. Er hatte bisher stumm dagesessen. Julian hatte ihn beobachtet. Sein anfangs friedliches und sanftes Auge war im Laufe der Debatte immer feuriger geworden. Jetzt floß seine Seele über wie die Lava des Vesuvs.
»Von 1806 bis 1814«, sagte er, »hat England einen großen Fehler begangen. Ich meine, es hat es an unmittelbaren und persönlichen Maßregeln gegen Napoleon fehlen lassen. Nachdem dieser Mensch Herzöge und Kammerherrn ernannt, nachdem er die Monarchie wieder eingerichtet hatte, war die ihm von Gott anvertraute Sendung erfüllt. Alsdann mußte er geopfert werden. Die Heilige Schrift zeigt uns an mehr denn einer Stelle, wie man einen Usurpator beseitigt…« Es folgten etliche Zitate aus der Vulgata. »Meine Herren, heute handelt es sich nicht mehr darum, einen einzigen zu opfern. Ganz Paris muß geopfert werden! Was Paris tut, macht das übrige Frankreich nach. Wozu erst in jedem Regierungsbezirk fünfhundert Mann bewaffnen? Eine riskante Sache, die zu gar nichts führt. Wozu das ganze Land in etwas hineinziehen, was lediglich Paris angeht? Paris allein mit seinen Zeitungen und Salons ist der Schuldige. Möge das neue Babylon zugrunde gehn! Es heißt, sich endgültig entscheiden zwischen Kirche oder Paris! Ein Staatsstreich entspricht sogar den rein weltlichen Interessen des Thrones. Warum hat Paris unter Bonaparte kaum zu atmen gewagt? Fragen Sie die Kanonen von Saint-Roch! – – –
Es war drei Uhr morgens, als Julian zusammen mit Herrn von La Mole ging. Der Marquis war kleinlaut und müde. In den Worten, die er an seinen Begleiter richtete, lag zum ersten Male ein bittender Ton. Er nahm ihm das Ehrenwort ab, niemals von diesen Exzessen des Eifers zu sprechen, deren Zeuge er zufällig geworden sei. »Erwähnen Sie dies nur dann vor unserm auswärtigen Freunde, wenn er ernstlich darauf besteht, unsre jungen Heißsporne kennenzulernen. Was tut es ihnen, wenn der Staat über den Haufen geworfen wird? Sie flüchten nach Rom und leben dort als Kardinäle. Wir aber, in unsern Schlössern, wir werden von den Bauern massakriert.«
Die geheime Note, die der Marquis aus dem sechsundzwanzig Seiten langen Protokoll Julians aufstellte, war erst um drei Viertel fünf Uhr fertig.
»Ich bin todmüde«, sagte Herr von La Mole. »Das merkt man meinem Berichte auch an. Gegen den Schluß verliert er seine Klarheit. Ich bin damit unzufriedener als mit sonst was je in meinem Leben …
So, mein Lieber«, setzte er hinzu. »Jetzt ruhen Sie sich ein paar Stunden aus!« –
Am andern Morgen fuhr der Marquis mit Julian nach einem entlegenen Schlosse ziemlich weit weg von Paris. Die Besitzer machten einen sonderbaren Eindruck. Julian hielt sie für Geistliche.
Er bekam einen Paß, auf dem ein falscher Name stand. Aus ihm erfuhr er endlich das Ziel seiner Reise, das er insgeheim längst geahnt hatte. In den Wagen stieg außer ihm niemand. Der Marquis hatte sich die geheime Note mehrmals aufsagen lassen. Er verließ sich fest auf Julians Gedächtnis. Nur fürchtete er, man könne ihn unterwegs abfangen.
Als sich Julian von ihm empfahl, sagte er freundschaftlich zu ihm: »Vor allen Dingen benehmen Sie sich wie ein Idiot, der eine Reise macht, um die Zeit totzuschlagen. Wer weiß, ob gestern nicht mehr als ein Judas in der Versammlung war.«
Die Reise ging rasch vonstatten, aber es war eine trübselige Fahrt. Kaum aus der Sehweite des Marquis, hatte Julian den Geheimbericht und seine Mission schon vergessen. Er dachte nur noch daran, daß Mathilde ihn verächtlich behandelt hatte.
In einem Dorfe eine Meile hinter Metz erklärte der Posthalter, es seien keine Pferde da. Es war zehn Uhr abends. Sehr ärgerlich bestellte Julian etwas zu essen. Sodann spazierte er vor dem Tor auf und ab und schlüpfte unversehens in den Hof. Er fand kein einziges Pferd in den Ställen.
»Der Posthalter kommt mir verdächtig vor«, dachte er ungläubig bei sich. »Er hat mich mit gemeinem Ausdruck angeglotzt.« Er hatte es sich längst abgewöhnt, alles, was man ihm sagte, aufs Wort zu glauben, und so nahm er sich vor, nach dem Abendessen im Dorfe Erkundigungen einzuziehen.
Als er in die Küche trat, um sich am Herd zu wärmen, traf er zu seiner großen Freude Signore Geronimo, den berühmten Sänger. Der Neapolitaner saß gemütlich in einem Lehnstuhl, den er sich ans Feuer hatte rücken lassen. Er jammerte und stöhnte und sprach für sich allein mehr als der Schwarm deutscher Bauern, der um ihn stand.
»Ich bin ruiniert!« rief er Julian zu. »Ich bin verpflichtet, morgen in Mainz zu singen. Sieben regierende Fürsten sind versammelt, um mich zu hören … Aber kommen Sie! Wir wollen ein bißchen an die freie Luft!« setzte er augenzwinkernd hinzu.
Als sie hundert Schritte die Straße hingegangen waren und nicht mehr gehört werden konnten, sagte Geronimo: »Wissen Sie, wie sich die Sache verhält? Der Posthalter ist ein Spitzbube. Als ich vorhin durchs Dorf ging, habe ich einem Gassenbengel fünf Groschen gegeben. Da hat er mir die ganze Geschichte verraten. Am andern Dorfende, in irgendeinem Bauernstall, stehen zwölf Gäule. Offenbar will man irgendeinen Kurier nicht weiterlassen.«
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