»Du hast Angst!« sagte sie. »Ich werde allen Gefahren der Welt trotzen, ohne mit der Wimper zu zucken. Nur eines fürchte ich: den Augenblick, wo ich wieder allein bin, wenn du fort bist.«
Rasch war sie wieder hinaus.
»Ach!« sagte Julian begeistert. »Die Reue ist die einzige Gefahr, vor der dieser erhabenen Seele bangt.«
Endlich ward es Abend. Herr von Rênal begab sich in den Klub. Frau von Rênal schützte heftige Kopfschmerzen vor und zog sich in ihr Zimmer zurück. Elise wurde baldigst entlassen. Dann machte sich Frau von Rênal rasch wieder zurecht und ließ Julian ein.
Er war in der Tat halb verhungert. Sie ging in die Speisekammer, um Brot zu holen. Kaum war sie fort, da hörte Julian einen Schrei.
Sie kam zurück und erzählte ihm, sie sei ohne Licht in die Speisekammer gegangen. Da habe sie plötzlich am Brotschrank einen weiblichen Arm gefaßt. Es sei Elise gewesen, deren Schrei er wohl gehört habe.
»Was machte sie dort?«
»Entweder war sie beim Naschen, oder sie spioniert«, meinte Frau von Rênal mit völliger Gleichgültigkeit.
»Glücklicherweise habe ich eine Pastete und ein Schwarzbrot erwischt.«
»Und was hast du darin?« fragte er, auf ihre Schürzentaschen deutend.
Frau von Rênal hatte vergessen, daß sie nach Tisch Brötchen eingesteckt hatte. Leidenschaftlich verliebt schloß Julian seine Freundin in die Arme. Noch nie war sie ihm so schön erschienen. Wie vor einer Vision dachte er: »Selbst in Paris werde ich keiner so großen Seele begegnen.« In ihr einte sich das unbeholfene Wesen einer Frau, die an derartige Abenteuer nicht gewöhnt ist, mit dem echten Mut eines Menschen, der irdischer Gefahren nicht achtet.
Julian aß mit großem Appetit, während seine Freundin über sein frugales Mahl scherzte. Es graute ihr, ernste Dinge zu sagen. Da wurde plötzlich kräftig an der Tür gerüttelt. Es war Herr von Rênal.
»Warum hast du dich eingeschlossen?« fragte er grob.
Julian hatte kaum Zeit, unter das Sofa zu kriechen.
»Noch völlig angezogen?« sagte der in das Zimmer Eintretende. »Du ißt zu Abend und riegelst dich ein?«
Frau von Rênal verlor ihre Ruhe nicht. An jedem andern Tage hätte die barsch-ehemännische Frage sie empört und verwirrt. So aber dachte sie kaltblütig daran, daß sich ihr Gatte nur ein wenig zu bücken brauchte, um Julian zu erblicken. Hatte er sich doch in den Lehnstuhl gesetzt, der dem Sofa gegenüberstand. Eben noch hatte Julian daselbst gesessen.
»Du weißt, ich habe Kopfschmerzen«, sagte sie kurz.
Nun erzählte ihr Herr von Rênal lang und breit von der Billardpoule, die er im Klub gewonnen hatte. »Ich sage dir, eine Poule von neunzehn Franken! Das war eine Sache!«
Gerade als er dies sagte, erblickte sie Julians Hut auf dem andern Lehnstuhle. Ihre Ruhe verdoppelte sich. Sie begann sich auszukleiden. Im rechten Augenblick schlüpfte sie hinter den Gatten und warf ein Kleidungsstück über den Stuhl mit dem Hut.
Endlich ging Herr von Rênal.
Sie bat Julian, ihr noch einmal sein Leben im Seminar zu schildern. »Gestern habe ich dir gar nicht recht zugehört. Während du erzähltest, habe ich nur daran gedacht, mich zu zwingen, dich fortzuschicken.«
Sie ließ jede Vorsicht außer acht. Beide unterhielten sich ziemlich laut. Es mochte nachts zwei Uhr sein, als es zu ihrem Schreck plötzlich gegen die Türe donnerte. Wiederum war es Herr von Rênal.
»Mach schnell auf!« rief er. »Es sind Einbrecher im Hause. Ich habe Stimmen gehört. Johann hat heute früh eine fremde Leiter gefunden.«
»Jetzt ist alles aus!« flüsterte Frau von Rênal und fiel in Julians Arme. »Er wird uns alle beide töten. Das mit den Einbrechern, das sagte er bloß so. Ich will in deinen Armen sterben, glücklicher im Tode, als ich im Leben war!«
Ihrem Manne gab sie keine Antwort. Er schimpfte draußen, während sie Julian innig an sich drückte.
»Erhalte deinem Stanislaus die Mutter!« gebot ihr Julian in herrischem Tone. »Ich werde durch das Fenster im Kabinett nebenan in den Hof springen und mich durch den Garten retten. Die Hunde tun mir nichts. Sie haben mich wiedererkannt. Binde meine Kleider zu einem Bündel und wirf sie, sobald du kannst, in den Garten! Laß ihn nur die Türe eintreten. Und vor allem nichts eingestehen! Das verbiete ich dir! Verdacht ist immer besser als Gewißheit.«
»Du wirst beim Hinabspringen das Genick brechen!«
Das war ihre einzige Antwort und ihre einzige Sorge. Sie geleitete ihn an das Fenster des Kabinetts, dann versteckte sie bedächtig seine Kleider, und schließlich öffnete sie ihrem wutschnaubenden Manne.
Ohne ein Wort zu sagen, blickte er sich im Zimmer um, ebenso im Kabinett. Dann verschwand er wieder.
Julian bekam seine Sachen nachgeworfen. Er fing sie auf und eilte durch den Garten, abwärts dem Doubs zu. Im Laufen hörte er eine Kugel pfeifen und gleichzeitig den Knall eines Flintenschusses. »Das ist Rênal nicht!« dachte er. »So gut schießt der nicht!« Die Hunde liefen mit ihm, ohne zu bellen. Ein zweiter Schuß knallte. Offenbar war einer der Hunde in die Pfote getroffen, denn er begann kläglich zu heulen.
Julian sprang eine Terrassenmauer hinunter und lief etwa fünfzig Schritte in der Deckung hin. Dann lief er wieder abwärts. Er vernahm Stimmen, die sich gegenseitig zuriefen, und deutlich erkannte er den Diener, seinen alten Feind, wie er einen Schuß auf ihn abgab. Aber schon hatte Julian den Fluß erreicht. Dort zog er sich an. Eine Stunde später war er bereits ein beträchtliches Stück von Verrières fort, auf der Landstraße nach Genf.
»Wenn man mich verfolgt, so sucht man mich auf der Straße nach Paris!« sagte er sich.
»Der Herr wartet gewiß auf die Eilpost nach Paris?« fragte die Wirtin des Gasthofes, in dem Julian einkehrte, um zu frühstücken.
»Es eilt nicht«, erwiderte Julian. »Heute oder morgen.«
Während er so den Gleichgültigen spielte, traf die Post gerade ein. Zwei Plätze waren frei.
»Was sehe ich? Meinen lieben alten Falcoz!« rief einer der Insassen, der von Genf her kam, dem zugleich mit Julian Einsteigenden zu.
»Ich glaubte, du hättest dich in der Gegend von Lyon angesiedelt«, erwiderte der Angesprochene, »in einem der lieblichen Seitentäler der Rhone.«
»Schön angesiedelt. Ich mache, daß ich hier fortkomme.«
»Du, Saint-Giraud, der du kein Wässerchen trübst, was hast du denn Schlimmes verbrochen?« lachte der andre.
»Gerade genug. Ich fliehe das schauderhafte Provinzleben. Ich liebe ländliche Ruhe und Waldeskühle. Das weißt du ja. Du hast mir oft vorgeworfen, ich sei Romantiker. Ich habe mein Lebtag nichts von Politik wissen wollen. Und gerade die Politik vertreibt mich.«
»Zu welcher Partei gehörst du denn?«
»Zu keiner. Das ist eben mein Unglück. Meine ganze Politik ist die: Ich bin ein Liebhaber von Musik und Malerei. Ein gutes Buch ist mir ein Erlebnis. Nächstens werde ich vierundvierzig Jahre alt. Wie lange habe ich noch zu leben? Fünfzehn, zwanzig, höchstens dreißig Jahre. Ich will einmal annehmen, die Minister seien in dreißig Jahren ein bißchen gescheitere Kerle als heutzutage. Englands Geschichte flößt mir für unsre Zukunft einige Hoffnung ein. Aber immer wird es Monarchen geben, die ihre Vorrechte vermehren wollen, immer Streber, die Abgeordnete zu werden trachten. Mirabeaus Ruhm und die Hunderttausende von Franken, die er verdient hat, lassen die reichen Provinzler nicht schlafen. Das nennen sie Liberalismus und Liebe zum Volke. Und was die Konservativen anbelangt: Zum Kammerherrn ernannt oder ins Herrenhaus berufen zu werden wird immerdar ihr Ideal bleiben. Jedermann will auf dem Staatsschiffe zu tun haben, denn das wird vorzüglich bezahlt. Für einen schlichten Passagier bleibt nirgends ein armseliges Plätzchen.«
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