Die Nacht war stockdunkel. Gegen ein Uhr morgens kam Julian mit seiner Leiter in die Nähe des Rênalschen Hauses. Dort stieg er hinab in die Schlucht des Gebirgsbaches, der in einem zu beiden Seiten ausgemauerten, etwa drei Meter tiefen Bett das Grundstück des Bürgermeister durchfloß. Mit Hilfe seiner Leiter gelangte er in den schönen Garten. Während er Terrasse auf Terrasse, deren Gittertüren alle geschlossen waren, erkletterte, dachte er bei sich: »Wie werden sich die Hunde verhalten? Davon hängt alles ab.«
Die Hunde, die am Hause lagen, schlugen von weitem an und kamen ihm in großen Sprüngen entgegen. Julian rief sie leise. Wedelnd näherten sie sich ihm. Schließlich stand er unter Frau von Rênals Schlafzimmer, das nach der Gartenseite zu nur zwei bis drei Meter über dem Erdboden gelegen war.
Die Läden des Fensters hatten einen herzförmigen Ausschnitt. Julian wußte das. Zu seiner großen Betrübung schimmerte durch dieses Loch kein Nachtlampenschein.
»Allmächtiger!« sagte er sich. »Sollte sie heute nacht woanders schlafen? Wo aber? Die Familie ist offenbar da. Wäre sie in Vergy, so wären die Hunde mit. In ein dunkles Zimmer kann ich unmöglich eindringen. Herr von Rênal oder ein Gast könnte drin schlafen. Das gäbe einen Mordsskandal!«
Das klügste wäre der Rückzug gewesen, aber den hielt Julian für schimpflich. »Wenn ein Gast drin liegt«, überlegte er, »dann lasse ich meine Leiter stehen und drücke mich schleunigst wieder. Und wenn sie drin ist: wie wird sie mich empfangen? Sie ist reumütig und sehr fromm geworden. Das darf ich nicht bezweifeln. Aber schließlich muß sie doch noch an mich denken. Sonst hätte sie mir nicht neulich den Geldbrief gesandt.«
Das gab den Ausschlag.
Klopfenden Herzens, aber fest entschlossen, sie in seine Arme zu drücken, und wenn er dabei umkommen sollte, warf er ein Steinchen gegen den Laden. Keine Antwort. Er legte seine Leiter seitwärts vom Fenster an, stieg hinauf und klopfte mit der Hand an den Laden, erst ganz leise, dann stärker. »So dunkel es ist: schießen könnte man doch auf mich«, dachte er, und der Gedanke an diese Möglichkeit machte ihm sein tolles Abenteuer zu einem Bravourstück.
»Das Zimmer ist heute nacht offenbar unbewohnt«, sagte er weiter, »denn wenn jemand drin schläft, muß er nun wach sein. Hier ist keine Vorsicht mehr nötig. Nur muß ich mich in acht nehmen, daß ich niemanden aufwecke, der in einem der Zimmer nebenan schläft.«
Er kletterte wieder hinunter, lehnte die Leiter gegen einen der Fensterflügel und stieg abermals hinauf. Jetzt steckte er einen Arm durch die herzförmige Öffnung und suchte nach dem eisernen Haken, durch den der Flügel am Fensterkreuz befestigt war. Zum Glück fand er ihn rasch. Er zog den Haken hoch und merkte zu seiner unsäglichen Freude, daß dieser Flügel nicht mehr festsaß und ohne weiteres geöffnet werden konnte. »Ich muß ihn leise aufmachen und mich durch meine Stimme zu erkennen geben«, beschloß er. Er öffnete den Flügel so weit, daß er den Kopf hindurchstecken konnte. Mit gedämpfter Stimme rief er zwei-, dreimal: »Gut Freund!«
Er horchte gespannt und überzeugte sich, daß sich in der tiefen Stille drinnen auch nicht das Leiseste rührte. Es brannte wirklich kein Nachtlicht auf dem Kamin, nicht einmal ein verglimmendes. Das war ihm ein schlimmes Zeichen.
»Wie schön könnte mich einer abschießen!« dachte er abermals. Er überlegte sich, was zu tun sei; dann wagte er es, mit dem Zeigefinger an die Scheibe zu klopfen. Es rührte sich noch nichts. Er klopfte stärker. »Zum Teufel!« dachte er. »Und wenn ich die Scheibe zerschlagen sollte. Ich muß wissen, woran ich bin.« Als er nun ganz laut klopfte, kam es ihm vor, als husche drinnen ein lichter Schatten durch das Dunkel. Kein Zweifel. Er sah eine weiße Gestalt, die sich langsam dem Fenster näherte. Plötzlich erblickte er ein Gesicht hinter der Scheibe, durch die sein Blick spähte.
Er erschrak und fuhr ein wenig zurück. Die Nacht war so finster, daß er sogar auf die nahe Entfernung nicht bestimmt erkennen konnte, ob es Frau von Rênal sei. Er hatte Angst, man könne um Hilfe rufen. Die Hunde umschnupperten das Fußende seiner Leiter und knurrten dumpf. Er hörte es. Abermals flüsterte er: »Ich bin es! Dein Freund!« Alles blieb still und stumm. Der weiße Schatten war verschwunden.
»Um alles in der Welt: öffne mir!« bat Julian. »Ich muß dich sprechen. Ich bin zu unglücklich!«
Nochmals pochte er derb an die Scheibe. Sie sollte zerspringen. Da vernahm er ein kurzes hartes Geräusch. Der Fensterriegel war aufgesprungen. Julian stieß das Fenster auf und sprang behend in das Zimmer.
Die weiße Gestalt wich vor ihm in die Tiefe des Gemachs. Julian faßte sie beim Arm. Es war eine Frau. Alle seine tapferen Gedanken waren weg. »Wenn sie es ist: was wird sie sagen?« fuhr es ihm durch das Hirn. Als er an einem leisen Schrei erkannte, daß es die Gesuchte war, verließen ihn fast die Sinne.
Er preßte Frau von Rênal in seine Arme. Sie zitterte und stieß ihn mühsam zurück.
»Unseliger! Was tun Sie?«
Diese Worte waren kaum vernehmbar, aber Julian hörte aus ihnen die echteste Entrüstung.
»Nach vierzehn Monaten grausamer Trennung komme ich wieder zu dir!« flüsterte er.
»Fort! Verlassen Sie mich auf der Stelle!« Sie stieß ihn mit ungewöhnlicher Kraft von sich. »Ach, warum hat mich Chélan abgehalten, ihm zu schreiben? Dann wäre mir diese Abscheulichkeit erspart geblieben! Ich bereue meine Sünde. Der Himmel hat die Gnade gehabt, mir die Augen zu öffnen.« Und mit ersterbender Stimme wiederholte sie: »Fort! Fliehen Sie!«
»Nein!« sagte Julian ernst und fest. »Nach vierzehn Monaten des Leids gehe ich nicht von dir, ohne mit dir gesprochen zu haben. Ich will wissen, wie es dir ergangen ist. Ich habe dir genug Liebe bewiesen, um dies Vertrauen zu verdienen. Ich muß alles wissen.«
Sein gebieterischer Ton drang ihr ins Herz, sosehr sie sich dagegen sträubte. Bis jetzt hatte Julian sie fest in seinen Armen gehalten und ihre Befreiungsversuche abgewehrt. Nun ließ er sie los. Das beruhigte Frau von Rênal ein wenig.
»Ich will die Leiter heraufziehen«, sagte er. »Sie könnte uns verraten, falls einer der Leute durch den Lärm aufgewacht sein sollte und einen Rundgang macht.«
»Nein! Gehen Sie! Gehen Sie!« gebot Frau von Rênal in wundervollem Zorn. »Was kümmern mich die Leute? Gott sieht die schändliche Szene doch, die Sie mir bereiten! Er wird mich dafür strafen. Sie nützen in unritterlicher Weise eine Zuneigung aus, die ich einmal für Sie gehegt habe, aber nicht mehr hege. Verstehen Sie mich, Herr Julian?«
Behutsam, um keinen Lärm zu verursachen, zog er die Leiter ins Zimmer.
»Dein Mann ist in der Stadt?« fragte er, nicht um sie zu höhnen, sondern ganz wie ehedem.
»Ich bitte Sie inständig, sprechen Sie nicht so zu mir. Oder ich rufe meinen Mann. Ich bin schon schuldig genug, daß ich Sie nicht sogleich weggewiesen habe, gleichgültig, was geschehen wäre.«
Mit den letzten Worten wollte sie seinen Stolz verletzen, dessen Empfindsamkeit sie so gut kannte.
Die Verweigerung des Du, dieses unbarmherzige Zerreißen eines zärtlichen Bandes steigerte seiner Liebe Überschwang zur Raserei.
»So! Also lieben Sie mich nicht mehr!« klagte er in rührendem Herzeleid.
Frau von Rênal blieb stumm.
Er weinte bitterlich. Tatsächlich hatte er nicht mehr die Kraft, zu reden.
Nach einer Weile sagte er: »So bin ich also ganz vergessen von dem einzigen Wesen, das mich jemals geliebt hat! Wozu weiterleben?«
All sein Mut war von ihm gewichen, seitdem er die Gefahr der Begegnung mit einem Manne nicht mehr zu fürchten hatte. Nichts war in seinem Herzen, nur noch die Liebe.
Lange weinte er vor sich hin. Er nahm ihre Hand. Sie wollte sie ihm entziehen, aber nach ein paar krampfhaften Versuchen ließ sie sie ihm. Es war stockfinster. Sie hatten sich unwillkürlich nebeneinander auf Frau von Rênals Bett gesetzt.
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