»Wie anders war es vor vierzehn Monaten!« dachte Julian, und seine Tränen flössen noch stärker. »So vernichtet das Fernsein erbarmungslos jedes Gefühl im Menschen!«
»Seien Sie so gütig und erzählen Sie mir, wie es Ihnen ergangen ist!« bat er schließlich mit tränenerstickter Stimme, als ihn sein Schweigen zu quälen begann.
Frau von Rênal erwiderte in einem Tone, dessen harter Klang Julian lieblos und vorwurfsvoll berührte. »Als Sie fortgingen von Verrières, war meine Verfehlung stadtbekannt. Ihr Verhalten war ja vielfach unvorsichtig gewesen. Bald darauf, als ich nahe daran war, völlig zu verzweifeln, suchte mich der ehrwürdige Pfarrer Chélan auf. Lange Zeit bemühte er sich vergeblich, mich zum Geständnis zu bringen. Eines Tages kam er auf den Gedanken, mich in die Kirche von Dijon zu führen, wo ich eingesegnet worden bin. Dort fand ich den Mut, ihm zum ersten Male …«
Frau von Rênal vermochte vor Tränen nicht weiterzureden.
»Ach, welch eine Stunde der Schmach! Ich habe ihm alles gestanden. Der Gute schmetterte mich nicht mit seiner Verachtung zu Boden. Er war mild. Er teilte meinen Schmerz. Bis dahin hatte ich Ihnen Tag für Tag einen Brief geschrieben, aber niemals abzuschicken gewagt. Ich hatte diese Briefe sorgsam aufbewahrt. Und wenn ich ganz unglücklich war, schloß ich mich in mein Zimmer und las in meinen eigenen Briefen … Der Pfarrer Chélan setzte es durch, daß ich ihm die Blätter einhändigte. Etliche, die vorsichtigeren, die hatte ich Ihnen geschickt. Aber Sie haben nie geantwortet…«
»Nie«, unterbrach Julian sie, »das schwöre ich dir, nie habe ich im Seminar einen Brief von dir erhalten!«
»Großer Gott! Wer mag sie aufgefangen haben?«
»Stelle dir mein Leid vor! Bis zu dem Tage, da ich dich in der Kathedrale sah, wußte ich nicht, ob du noch lebtest!«
»Gott war gnädig und ließ mich erkennen, wie sehr ich mich an Ihm versündigt hatte, an Ihm, an meinen Kindern und an meinem Gatten. Er hat mich niemals so geliebt, wie ich damals von Ihnen geliebt zu werden glaubte …«
Julian umarmte sie, ohne jedwede Absicht, willenlos. Aber Frau von Rênal stieß ihn zurück und immer noch leidlich fest fuhr sie fort: »Mein ehrwürdiger Freund Chélan hat es mir begreiflich gemacht, daß ich mich Herrn von Rênal, seit ich seine Ehefrau geworden, mit Leib und Seele verschrieben habe, bis in die höchsten Gefühle, die mir unbekannt waren, ehe ich sie in meiner sündigen Liebe erlebte … Seit der schmerzlichen Hingabe der mir so teuren Briefe ist mein Dasein, wenn auch nicht glücklich, so doch einigermaßen ruhig. Stören Sie meinen Frieden nicht! Seien Sie mein Freund … mein bester Freund!«
Julian bedeckte ihre Hände mit Küssen. Da merkte sie, daß er noch immer weinte.
»Weinen Sie nicht!« bat sie. »Machen Sie es mir nicht so schwer! Erzählen Sie mir nun auch, wie es Ihnen ergangen ist.«
Julian vermochte nicht zu sprechen.
»Ich möchte wissen«, begann sie von neuem, »wie Sie im Seminar gelebt haben. Dann aber müssen Sie gehen.«
Ohne daß sich Julian klar ward, was er sagte, erzählte er von den zahllosen Ränken und Eifersüchteleien, deren Opfer er zunächst gewesen, und von seinem ruhigeren Dasein, als er dann Repetitor geworden war.
»Gerade um diese Zeit«, berichtete er, »brachen Sie Ihr langes Schweigen, das mir wohl begreiflich machen sollte, was ich heute nur zu gut erkenne: daß Sie mich nicht mehr lieben, daß ich Ihnen gleichgültig geworden bin …«
Frau von Rênal drückte ihm die Hände.
»Damals erhielt ich von Ihnen die fünfhundert Franken …«
»Von mir? Niemals!« beteuerte Frau von Rênal.
»In einem Briefe mit dem Poststempel Paris, unterzeichnet ›Paul Sorel ‹, offenbar um jeden Verdacht abzulenken.«
Es entstand eine kleine Erörterung, wer den Brief wohl abgesandt habe. Dadurch änderte sich die ganze Stimmung. Unbewußt gaben Frau von Rênal sowohl wie Julian das Pathetische auf. Sie fanden sich beide in die Art und Weise ihrer alten zärtlichen Freundschaft zurück. Sie sahen einander nicht, so dicht war die Dunkelheit, aber der Klang ihrer Stimmen sagte alles. Julian legte den Arm um seine Freundin. Sie fühlte, wie gefährlich dies war, und so versuchte sie, sich wieder frei zu machen. Aber durch eine spannende Einzelheit seiner Erzählung gewann Julian recht geschickt gerade jetzt ihre volle Aufmerksamkeit, so daß die Abwehr des Armes wie aus Vergeßlichkeit unterblieb.
Nach langem Hin-und Herraten über den Ursprung des Briefes und der fünfhundert Franken setzte Julian seinen Lebensbericht fort. Dabei wurde er mehr und mehr wieder Herr seiner selbst. Die Vergangenheit, von der er sprach, bewegte ihn angesichts dessen, was er eben erlebte, nur wenig. Der Strom seiner Gedanken richtete sich einmütig auf den Ausgang seines nächtlichen Besuches. Von Zeit zu Zeit wurde ihm kurzerhand wiederholt: »Sie müssen gehen!«
»Was für eine Schande wäre es für mich, wenn ich mich hinauskomplimentieren ließe!« sagte er sich. »Die Reue darüber würde mir mein ganzes Leben vergiften. Sie wird mir nie schreiben, und Gott weiß, wann ich je wieder in diese Gegend komme!«
Von diesem Augenblick an war alles Hohe und Hehre aus seinem Herzen gewichen. Ein angebetetes Weib dicht neben sich, saß er in demselben Gemache, in dem er einst so glücklich war, in tiefdunkler stiller Nacht; er wußte, daß sie seit einer Weile weinte; er fühlte am Wogen ihres Busens, daß sie krampfhaft schluchzte, und doch wurde er mit einemmal ein kalter, herzloser, lauernder Beobachter, kaum anders als im Seminarhofe unter den schlechten Witzen seiner ihm körperlich überlegenen Kameraden.
Er zog seine Erzählung in die Länge und schilderte das unselige Leben, das er seit seinem Scheiden aus Verrières geführt hatte.
Frau von Rênal dachte sich: »Also hat er noch nach einem Jahre der Trennung, ohne Beweise, ob ich seiner gedachte, nur an die glücklichen Tage von Vergy gedacht! Und ich, ich hatte ihn vergessen!«
Ihr Schluchzen ward heftiger. Julian erkannte den Erfolg seiner Erzählung. Er ward sich klar, daß er das letzte Mittel versuchen mußte, und ohne Übergang begann er von dem Briefe zu reden, der ihn nach Paris berief. »Ich habe mich von Seiner Hochwürden dem Bischof verabschiedet…«, sagte er.
»Wie? Sie gehen nicht nach Besançon zurück? Sie verlassen uns?«
»So ist es«, entgegnete er in festestem Tone. »Ich verlasse ein Land, wo ich selbst von der vergessen bin, die ich über alles in der Welt geliebt habe. Ich verlasse es auf Nimmerwiedersehn. Ich gehe nach Paris…«
»Du gehst nach Paris?« fragte Frau von Rênal erschrocken.
In Tränen erstickend, vermochte sie diese Worte kaum hervorzubringen. Dies Zeichen ihrer höchsten Verwirrung brauchte Julian zu seiner Ermutigung. Er stand im Begriff, etwas zu wagen, was ihm leicht alles verderben konnte. Da er vor Dunkelheit nichts sehen konnte, so wußte er vor ihrem Aufschrei nicht, welchen Erfolg er bisher haue. Nun zögerte er nicht mehr. Die Furcht vor späterer Reue gab ihm die volle Selbstbeherrschung wieder. Er erhob sich und sagte in kühlem Tone: »Jawohl, gnädige Frau, ich verlasse Sie für immer. Seien Sie glücklich! Leben Sie wohl!«
Er machte ein paar Schritte dem Fenster zu. Er öffnete es bereits. Da stürzte ihm Frau von Rênal nach und hängte sich an seinen Hals.
So erreichte Julian nach dreistündigem Gespräch das Ziel, das er in den beiden ersten Stunden ihres Beisammenseins so leidenschaftlich begehrt hatte. Frau von Rênal hätte ihm ein wenig früher die Zärtlichkeit der alten Liebe gewähren und ihrer sittsamen Bedenken eher Herr werden sollen; dann hätte er ein göttliches Glück genossen. Was er nunmehr durch Diplomatie erlangte, war ihm nichts als Sinnenlust.
Er bestand darauf, trotz der Einwände seiner Geliebten, daß ein Nachtlicht angezündet ward.
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