»Soll ich gar keine Erinnerung an dein Gesicht mit in die Fremde nehmen?« klagte er. »Soll die Liebe, die in deinen süßen Augen leuchtet, ewig für mich verloren sein? Soll mir deine liebe weiße Hand nicht durch meine Träumereien schimmern? Denke daran, daß ich dich vielleicht für sehr lange verlasse!«
Frau von Rênal vermochte diese Bitte nicht mehr abzuwehren, deren Begründung sie zu neuen Tränen rührte. Aber schon begann der Morgen zu dämmern. Im Osten, am Horizont, bekamen die Fichten auf der Gebirgssilhouette haarscharfe Umrisse. Jetzt hätte Julian gehen müssen. Statt dessen bat er im Banne der Wollust Frau von Rênal, sie solle ihn den ganzen Tag über im Zimmer versteckt halten und ihn erst in der nächsten Nacht scheiden lassen.
»Warum nicht?« gab sie zur Antwort. »Mein schlimmer Rückfall in die alte Sünde nimmt mir alle Selbstachtung und bringt mir für immerdar Unglück.« Sie drückte den Geliebten an ihr Herz. »Mein Mann ist nicht mehr wie früher. Er ist argwöhnisch und immer gereizt gegen mich. Er kann nicht vergessen; er glaubt, ich hätte ihn hintergangen. Wenn er das geringste Geräusch hört, bin ich verloren. Er würde mich aus dem Hause jagen. Ach, bin ich unglücklich!«
»Ich höre den Pfarrer Chélan reden«, spottete Julian. »Vor unsrer grausamen Trennung, ehe ich ins Seminar ging, da hättest du nicht so gesprochen! Damals liebtest du mich!«
Die Kaltblütigkeit, mit der er diese Worte hervorbrachte, belohnte sich. Er sah, wie seine Freundin plötzlich die Gefahr vergaß, die ihres Mannes Nähe ihr bereitete, eine viel größere Gefahr vor Augen: Julians Zweifel an ihrer Liebe.
Das Tageslicht nahm rasch zu. Schon war das Zimmer völlig hell. Aufs neue schwelgte Julian in allen Lüsten seines Stolzes, als er dieses entzückende Weib in seinen Armen und fast zu seinen Füßen erblickte, das einzige menschliche Wesen, das er je geliebt, und das noch vor wenigen Stunden aus grenzenloser Furcht vor Gottes Rache nichts anerkennen wollte als die Pflichten seiner Ehe. Die durch ein ganzes Jahr der Standhaftigkeit gefestigten Vorsätze hatten sich vor seinem Mute nicht behaupten können.
Bald ward es im Hause lebendig. Frau von Rênal hatte an eines nicht gedacht, und das beunruhigte sie jetzt.
»Wenn Elise das Zimmer betritt, wird das boshafte Ding deine Riesenleiter bemerken. Wo verstecken wir sie? Ich werde sie auf den Boden tragen. Was denkst du?«
Sie lachte in einer plötzlichen Anwandlung von Heiterkeit.
Erstaunt entgegnete Julian: »Da müßtest du doch durch die Stube des Dieners.«
»Ich stelle die Leiter einstweilen in den Gang, rufe den Diener heraus und schicke ihn mit einem Auftrag fort.«
»Vergiß auch nicht, dir eine Ausrede zu überlegen für den Fall, daß der Mensch die Leiter stehen sieht, wenn er daran vorbeigeht.«
»Gewiß, mein Engel«, sagte Frau von Rênal und gab ihm einen Kuß. »Und vergiß du nicht, dich schnell unter das Bett zu verstecken, wenn Elise in meiner Abwesenheit hereinkäme.«
Julian war über Frau von Rênals plötzliche Fröhlichkeit betroffen. »Merkwürdig!« sagte er sich. »Die Nähe einer handgreiflichen Gefahr erweckt nicht Unruhe in ihr, sondern Frohsinn. Offenbar, weil sie dabei ihre Reue vergißt. Wahrlich, eine hochgemute Frau! Welch ein Triumph, in solch einem Herzen zu herrschen!«
Julian war begeistert.
Frau von Rênal ergriff die Leiter. Julian, im Glauben, sie sei zu schwer für sie, sprang ihr bei. Aber sie nahm sie ohne seine Hilfe, als hebe sie einen Stuhl. Julian bewunderte ihre schlanke Gestalt, die so viel Kraft nicht verriet.
Sie trug die Leiter rasch in den Gang des zweiten Stocks und legte sie daselbst an der Wand zu Boden. Dann rief sie den Diener. Um ihm Zeit zum Ankleiden zu geben, stieg sie bis zum Taubenschlag. Als sie nach fünf Minuten wieder in den Gang kam, war die Leiter nicht mehr da. »Wo ist sie hin?« fragte sie sich. Wenn Julian nicht mehr im Hause gewesen wäre, hätte sie dies nicht beunruhigt. So aber, wenn ihrem Manne die Leiter auffiel: was dann? Dieser Nebenumstand konnte die schrecklichsten Folgen haben.
Frau von Rênal suchte das ganze Haus ab. Endlich entdeckte sie die Leiter unter dem Dache. Der Diener hatte sie dorthin getragen, offenbar um sie zu verstecken. Das dünkte Frau von Rênal sonderbar, aber sie behielt ihre Ruhe.
»Was kümmerts mich«, dachte sie bei sich. »In vierundzwanzig Stunden ist Julian über alle Berge. Mag dann geschehen, was will! Für mich gibt es sowieso nur Qual und Pein.«
Sie hatte die vage Vorstellung, daß sie ihr Leben lassen müsse. Was lag ihr am Dasein? Sie hatte geglaubt, von ihrem Geliebten auf immerdar getrennt zu sein, und doch war er ihr noch einmal wiedergeschenkt worden. Sie hatte ihn von neuem in ihren Armen gehabt. Und was alles er gewagt, um zu ihr zu dringen, bewies das nicht die große Liebe?
Sie berichtete Julian, was sich mit der Leiter ereignet hatte. Sodann fragte sie ihn: »Was soll ich meinem Manne sagen, wenn er durch den Diener erfährt, daß sich im Hause eine fremde Leiter gefunden hat?«
Sie sann eine kleine Weile nach. »Vielleicht bekommt er heraus, woher die Leiter ist. Aber vor vierundzwanzig Stunden auf keinen Fall!« Sie warf sich in Julians Arme und drückte ihn krampfhaft an sich. »Ach, so sterben!« rief sie und küßte ihn inbrünstig. Mit einemmal lachte sie wieder und meinte: »Deswegen sollst du aber hier nicht verhungern! Komm! Zunächst stecke ich dich in Frau Dervilles Zimmer, das stets verschlossen ist.«
Sie ging an das Ende des Ganges, um zu erspähen, ob jemand komme. Julian lief flink in die Fremdenstube.
»Mach ja nicht auf, wenn jemand klopfen sollte! Es wären höchstens die Kinder aus Unsinn bei ihrem Spiele.«
»Laß die Jungen einmal in den Garten unter das Fenster kommen! Ich möchte sie gern sehen. Laß sie sprechen!«
»Ja, ja!« rief Frau von Rênal im Hinausgehen und schloß den Geliebten ein.
Nach kurzer Zeit kam sie wieder, mit Apfelsinen, Zwieback und einer Flasche Malaga. Brot beiseite zu schaffen war ihr nicht möglich gewesen.
»Was macht dein Mann?« fragte Julian.
»Er setzt mit ein paar Bauern Kaufverträge auf.«
Es schlug acht Uhr. Jetzt ward es laut im Hause. Wenn die Hausherrin nicht zu sehen gewesen wäre, hätte man sie überall gesucht. Somit war sie gezwungen, Julian zu verlassen.
Nach einer Weile kam sie abermals zu ihm herauf und brachte ihm, jedweder Vorsicht zum Trotz, eine Tasse Kaffee. Sie fürchtete, er könne Hunger leiden. Nach dem Frühstück lockte sie die Kinder unter das Fenster des Gastzimmers. Julian fand, sie seien gewachsen, aber sie kamen ihm gewöhnlich vor. »Ist es so, oder habe ich sie früher mit andern Augen angeschaut?« fragte er sich. Er hörte, wie ihre Mutter mit ihnen von ihm sprach. Der Älteste bekundete Freundschaft und Verlangen nach dem früheren Hauslehrer, aber die beiden jüngeren hatten ihn wohl schon halb vergessen.
Herr von Rênal ging an diesem Vormittag nicht aus. Fortwährend lief er im Hause umher, treppauf, treppab, damit beschäftigt, Lieferungsverträge mit Bauern abzuschließen, die ihm seine Kartoffelernte abnehmen sollten. Bis zur Hauptmahlzeit konnte Frau von Rênal ihrem Gefangenen keinen Augenblick widmen.
Als zu Tisch geläutet wurde und angerichtet war, geriet sie auf den Gedanken, ihm einen Teller heißer Suppe hinaufzuschaffen. Vorsichtig tat sie das, aber im Gange, als sie sich leise der Türe näherte, hinter der Julian eingeschlossen war, erblickte sie plötzlich den Diener, der am Morgen die Leiter versteckt hatte. Er kam ebenfalls leise durch den Gang, als ob er horchen wollte. Wahrscheinlich war Julian unvorsichtig hin und her gegangen. Verlegen entfernte sich der Diener.
Frau von Rênal betrat kühn das Zimmer. Julian erschrak, als er von der Begegnung vernahm.
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