»Jetzt bin ich also im Mittelpunkt der Kabale und der Heuchelei!« sagte er sich. »Hier herrschen die Gönner des Abbé von Frilair und seiner Geistesbrüder!«
Am Abende des dritten Tages siegte die Neugier über seine ursprüngliche Absicht, sich erst einmal Paris gründlich anzusehen, ehe er sich beim Abbé Pirard meldete. In kühlem Tone setzte ihm sein ehemaliger Seminardirektor auseinander, welche Lebensverhältnisse ihn im Hause des Marquis von La Mole erwarteten.
»Sollten Sie sich dort nach ein paar Monaten nicht als brauchbar erweisen«, sagte er unter anderm, »so gehen Sie ins Seminar zurück, ohne daß Sie dabei einen Nachteil erleiden werden. Sie wohnen fortan im Hause des Marquis, eines der Grandseigneurs des Landes. Sie werden schwarz gehen, indessen nicht wie ein Geistlicher, sondern wie jemand, der Trauer hat. Ich verlange, daß Sie sich dreimal in der Woche in einem Seminar einstellen, wo ich Sie einführen werde. Dort setzen Sie nebenbei Ihre theologischen Studien fort. Täglich um zwölf Uhr haben Sie sich in der Bibliothek des Marquis einzufinden. Er beabsichtigt, seine gesamte Geschäftskorrespondenz durch Sie führen zu lassen. An den Rand jedes einlaufenden Briefes macht er ein paar knappe Notizen über die Beantwortung. Ich habe ihm versichert, in einem Vierteljahre seien Sie imstande, die Antworten so aufzusetzen, daß der Marquis von zwölf ihm zur Unterschrift vorgelegten Schreiben mindestens acht oder neun unterzeichnen könne. Abends um acht Uhr haben Sie seinen Schreibtisch in Ordnung zu bringen. Um zehn Uhr sind Sie frei.
Möglicherweise«, fuhr Pirard fort, »macht Ihnen irgendeine alte Dame oder ein freundlich redender Herr große Versprechungen oder bietet Ihnen einfach Geld, damit Sie die Korrespondenz des Marquis verraten…«
»Herr Abbé!« unterbrach ihn Julian, schamrot geworden.
»Merkwürdig!« murmelte der Abbé mit einem Lächeln voll Bitternis. »So arm wie Sie sind, und obgleich Sie ein volles Jahr im Seminar gelebt haben, können Sie sich noch so ehrbar entrüsten! Sie müssen recht blind gewesen sein!
Sollte das die Macht des Blutes sein?« fuhr er wie mit sich selbst redend fort. »Es ist doch sehr sonderbar, daß der Marquis Sie kennt. Woher, weiß ich nicht…
Für den Anfang bekommen Sie zweitausend Franken Gehalt. Der Marquis ist ein Mann, der ganz nach seiner Laune handelt. Das ist sein Fehler. Er wird sich mit Ihnen um Kindereien streiten. Ist er mit Ihnen zufrieden, so wird Ihr Gehalt nach und nach auf achttausend Franken steigen. Aber eins merken Sie sich: der Marquis gibt Ihnen all dies Geld nicht um Ihrer schönen Augen willen. Sie müssen etwas leisten. An Ihrer Stelle würde ich sehr wenig reden – und vor allem niemals über Dinge, von denen ich nichts verstehe.
Und nun will ich Ihnen noch etwas über die Familie des Herrn von La Mole sagen. Ich habe mich für Sie darüber erkundigt. Er hat zwei Kinder: eine Tochter und einen neunzehnjährigen Sohn, einen Dandy ersten Ranges, eine Art Sonderling, der um zwölf Uhr noch nicht weiß, was er um zwei tun will. Er besitzt Witz und Mut und hat die Expedition nach Spanien Anno 1823 mitgemacht. Aus einem mir unbekannten Grunde erwartet der Marquis, daß sich sein Sohn Norbert kameradschaftlich zu Ihnen stellt. Ich habe ihm erzählt, daß Sie ein guter Lateiner sind. Vielleicht rechnet er damit, daß Sie seinem Sohn ein paar fertige Redensarten über Cicero und Virgil beibringen.
An Ihrer Stelle würde ich dem vornehmen jungen Herrn gegenüber zunächst sehr zurückhaltend sein und seinem wahrscheinlich ausgesucht höflichen, aber doch leise ironischen Entgegenkommen nur zögernd Folge leisten. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß der junge Graf Sie zunächst insgeheim verachten wird, denn Sie sind bloß ein Bürgerlicher. Wohingegen einer seiner Vorfahren eine große Rolle am Hofe gespielt und die Ehre gehabt hat, wegen politischer Umtriebe am 6. April 1574 auf dem Grève-Platz um einen Kopf kürzer gemacht zu werden. Sie sind der Sohn des Müllers von Verrières, obendrein im Dienste seines Vaters. Machen Sie sich diesen gewaltigen Unterschied möglichst klar und studieren Sie die Geschichte der Familie von La Mole im Werke von Moreri. Die Schmeichler, die im Hause verkehren, machen von Zeit zu Zeit zarte historische Anspielungen.
Seien Sie auch vorsichtig, wenn Sie auf die Scherze des Grafen Norbert antworten. Er ist Rittmeister und Eskadronchef bei den Husaren und dermaleinst Pair von Frankreich. Kommen Sie mir hinterher nicht mit Klagen!«
Julian hatte einen feuerroten Kopf bekommen.
»Ich bin der Meinung«, erwiderte er, »einem Menschen, der einen verächtlich behandelt, antwortet man am besten überhaupt nicht.«
»Da haben Sie nicht die richtige Vorstellung von aristokratischer Verachtung«, wandte Pirard ein. »Sie dürfte sich kaum anders denn in übertriebenen Komplimenten äußern. Ein Dummkopf nimmt das für bare Münze. Einer, der sein Glück machen will, muß so tun.«
»Wird man mich für undankbar halten«, fragte Julian, »wenn ich an dem Tage, da mir dies alles nicht mehr gefällt, in meine kleine Zelle Nummer 103 zurückkehre?«
»Allerdings«, entgegnete der Abbé. »Alle Schmeichler des Hauses werden Sie verleumden. Aber dann werde ich auf dem Posten sein. Adsum, qui feci. Ich werde sagen, ich hätte Sie dazu veranlaßt.«
Julian war verletzt durch den bitteren, beinahe bösen Ton, den Pirard während der ganzen Unterredung anschlug. Das brachte ihn um den Inhalt der letzten Worte des Abbé. In Wirklichkeit machte sich Pirard schwere Vorwürfe ob seiner Vorliebe für Julian. Auch war es ihm contre cœur, sich so unmittelbar in das Geschick eines Mitmenschen zu mischen.
Mit der nämlichen Mißlaune, als entledige er sich einer unangenehmen Pflicht, fuhr er fort: »Sie werden auch die Frau Marquise von La Mole kennenlernen, eine stattliche Blondine, eine fromme, hochmütige, äußerst verbindliche Dame, aber eine Frau ohne die geringste Bedeutung. Sie ist eine Tochter des alten Herzogs von Chaulnes, der wegen seines Adelsstolzes allbekannt ist. Diese Grande-dame ist sozusagen der Extrakt ihrer sämtlichen Ranggenossinnen. Sie macht kein Hehl daraus, daß der einzige Vorzug, den sie anerkennt, der ist, Ahnen zu haben, die die Kreuzzüge mitgemacht haben. Reichtum steht tief unter dem. Das wundert Sie? Ja, mein Lieber, wir sind nicht mehr in der Provinz.
Sie werden in den Salons des Hauses von La Mole manchen hohen Herrn in sonderbar leichtfertigem Tone von unserm Herrscherhause reden hören. Die Frau Marquise hingegen zerfließt in Verehrung des Gottesgnadentums. Ich rate Ihnen nicht, in ihrer Gegenwart zu behaupten, Philipp der Zweite oder Heinrich der Achte seien Unmenschen gewesen. Diese Herren waren Majestäten! Das gibt ihnen ewige Rechte auf die Ehrerbietung sämtlicher Menschen, insbesondere sämtlicher Menschen ohne Ahnen, wie wir welche sind, Sie und ich. Allerdings sind wir beide Priester. Als solcher werden Sie von ihr behandelt werden. Wir sind sozusagen die Kammerdiener ihres Seelenheils.«
»Herr Abbé«, erklärte Julian, »ich glaube, ich werde nicht lange in Paris bleiben.«
»Wir werden ja sehen. Aber vergessen Sie nicht, daß unsereiner nur durch die großen Herren Karriere machen kann. Sie haben, zum mindesten für mich, in Ihrem Wesen etwas Geheimnisvolles und Seltsames. Darum bilde ich mir ein, entweder werden Sie sehr hoch kommen oder sehr viel zu leiden haben. Ein Zwischending gibt es für Sie nicht. Des seien Sie sich immer klar. Die Leute merken, daß Sie am liebsten nicht angeredet sein wollen. In einem sozialen Lande wie Frankreich sind Sie verloren, wenn Sie nicht vor jedermann Respekt zeigen, der Anspruch darauf erhebt. Was wäre in Besançon aus Ihnen geworden, wenn die Laune des Marquis nicht auf Sie geraten wäre? Eines Tages werden Sie begreifen, wie außergewöhnlich das ist, was er für Sie tut, und wenn Sie nicht gerade ein Ungeheuer sind, werden Sie ihm und seiner Familie ewig dankbar sein. Wie viele arme Abbés, gelehrtere Köpfe als Sie, haben lange, lange Jahre ihr Leben in Paris gefristet von den paar Groschen, die einem wissenschaftliche Arbeiten einbringen.
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