Aus diesem Überschwange zügellosen Ehrgeizes wurde er eines Morgens durch einen jungen Diener des Hauses von La Mole herausgerissen. Er brachte einen Brief von Mathilde:
»Alles verloren! Komme so rasch als möglich her. Laß alles im Stich. Desertiere, wenn es sein muß. Sobald Du da bist, erwarte mich in einer Droschke an der kleinen Gartentür. Vielleicht kann ich Dich mit in den Garten nehmen. Wir haben viel zu besprechen. Es ist alles verloren, ich fürchte, unwiderruflich. Aber verlaß Dich auf mich! Ich bleibe Dir treu auch im Unglück.
In Liebe
Deine Mathilde.«
Wenige Minuten später hatte Julian Urlaub von seinem Oberst. In wilder Hast ritt er von Straßburg ab. Aber die qualvolle Unruhe, die in ihm wühlte, machte ihm die Reise zu Pferd bereits hinter Metz unerträglich. Er warf sich in eine Extrapost und erreichte in schier unglaublicher Eile den bezeichneten Ort, die kleine Pforte hinten im Garten des Hauses La Mole. Die Tür öffnete sich, und im selben Augenblick lag Mathilde bereits in seinen Armen. Sie nahm auf nichts Rücksicht. Zum Glück war es fünf Uhr früh und die Straße noch menschenleer.
»Es ist alles verloren!« rief sie. »Mein Vater ist aus Furcht vor meinen Tränen in der Nacht auf Donnerstag verreist. Niemand weiß, wohin. Er hat mir diesen Brief hinterlassen. Lies ihn selber!«
Sie stieg zu ihm in die Droschke.
Der Brief des Marquis lautete:
»Alles könnte ich verzeihen, nur nicht, daß Du planmäßig verführt worden, weil Du reich bist. Mein unglückliches Kind, das ist die schändliche Wahrheit! Ich gebe Dir mein Ehrenwort, daß ich Dir niemals erlaube, diesen Menschen zu heiraten. Ich setze ihm ein Jahresgeld von zehntausend Franken aus, wenn er sich bereit erklärt, weit fort, außerhalb von Frankreichs Grenzen, am besten in Amerika, Aufenthalt zu nehmen. Lies beiliegenden Brief! Ich habe ihn als Antwort auf eine Erkundigung erhalten. Der Schamlose hat mich selbst veranlaßt, an Frau von Rênal zu schreiben. Ich werde auch nicht eine Zeile Deiner Hand lesen, die auf diesen Menschen Bezug hat. Ich hasse Paris und will Dich nicht sehen. Ich rechne fest darauf, daß Du das Unvermeidliche sorgfältig geheimhältst. Entsage dem Schurken freiwillig, und ich bin wieder
Dein Vater.«
»Wo ist der Brief von Frau von Rênal?« fragte Julian kalt.
»Hier! Ich wollte ihn dir erst zeigen, wenn du darauf vorbereitet wärest.«
Frau von Rênal schrieb:
»Sehr geehrter Herr Marquis!
Religion und Moral verpflichten mich zu dem peinlichen Schritt, den ich hiermit Ihnen gegenüber tue. Ich kann nicht anders; ich muß einen Mitmenschen schädigen, um dadurch ein noch größeres Ärgernis zu vereiteln. Mein Schmerz hierüber weicht meinem Pflichtgefühl.
Es ist allzu wahr: die Person, über die Sie genaue Auskunft haben wollen, hat es verstanden, ihr Betragen anständig, zum mindesten nicht klar beurteilbar erscheinen zu lassen. Aus Rücksicht auf die Schicklichkeit hat man die Wahrheit verdeckt und versteckt. Das war ein Gebot der Klugheit. In Wirklichkeit jedoch war die sittliche Führung dieses Menschen im höchsten Grade verdammenswert. Mehr kann ich nicht sagen. Arm und habgierig, dabei der ärgste Heuchler, hat er eine schwache unglückliche Frau verführt, um vorwärtszukommen und etwas zu werden. Meine Pflicht zwingt mich zu meinem Bedauern hinzuzufügen, daß ich Herrn J. S. für einen Menschen ohne religiöse Grundsätze halte. Aus Gewissenhaftigkeit muß ich bekennen, daß ich glaube, eins seiner Mittel, um in einer Familie festen Fuß zu fassen, liegt darin, die angesehenste Dame des Hauses zu verführen. Hinter der Maske der Uneigennützigkeit und mit Romanphrasen im Munde hat er kein andres Ziel, als den Herrn des Hauses und dessen Vermögen in seine Macht zu bekommen. Unglück und ewige Reue läßt er hinter sich zurück…«
Der Brief war sehr lang und stellenweise von Tränen halb verwischt. Frau von Rênal hatte ihn mit besonderer Sorgfalt geschrieben.
Als er zu Ende gelesen hatte, sagte Julian: »Ich kann Herrn von La Mole keinen Vorwurf machen. Er hat klug und recht gehandelt. Welcher Vater gibt seine Lieblingstochter einem solchen Subjekt! Lebe wohl!«
Damit sprang er aus der Droschke und lief nach seinem Postwagen, der am Eingang der Straße hielt. Mathilde, die offenbar für ihn nicht mehr da war, wollte ihm nacheilen. Aber die Krämer, die in ihren Ladentüren standen, waren stutzig geworden. So sah sie sich gezwungen, in ihren Garten zurückzueilen.
Julians Ziel war Verrières. Auf dieser hastigen Fahrt wollte er an Mathilde schreiben, aber er war nicht dazu imstande. Was er auf das Papier warf, war unleserlich.
Es war Sonntag vormittags, als er in Verrières anlangte. Sein erster Gang war zum Waffenhändler, der ihn mit Glückwünschen überhäufte. Die ganze Gegend sprach ja von seinem neuerlichen Glück. Er kaufte ein Paar Pistolen und ließ sie sich sogleich laden.
Als er aus dem Geschäft heraustrat, ertönte der Dreischlag. In den französischen Dörfern ist dies nach mehrfachem Läuten das wohlbekannte Zeichen des alsbaldigen Beginnes der Messe.
Julian betrat die neue Kirche von Verrières. Die sämtlichen hohen Fenster des Schiffes waren mit scharlachroten Vorhängen bedeckt. Ein paar Schritte hinter dem Sitz von Frau von Rênal blieb er stehen. Er sah, wie sie inbrünstig betete. Als er diese Frau, die er so heiß geliebt hatte, erblickte, zitterten ihm die Hände, so daß er sein Vorhaben zunächst nicht auszuführen vermochte.
»Ich kann es nicht!« sagte er zu sich selbst. »Mein Körper versagt mir den Gehorsam.«
In diesem Augenblick klingelte der Chorknabe, der bei der Messe ministrierte, zur Erhebung der Monstranz. Frau von Rênal senkte den Kopf. Fast sah Julian ihr Gesicht nicht mehr. Die Falten ihres Schals verdeckten es.
Jetzt schoß er auf sie aber er traf nicht. Er schoß nochmals. Frau von Rênal sank um.
Julian blieb unbeweglich stehen. Er sah nichts mehr. Als er wieder zu sich kam, bemerkte er, daß alle Andächtigen aus der Kirche flohen. Der Priester hatte den Altar verlassen.
Langsam schritt Julian hinter ein paar Weibern her, die kreischend davonliefen. Eine der Frauen, die rascher laufen wollte als die andern, prallte heftig an ihn an. Dadurch geriet er aus dem Gleichgewicht und stolperte über einen von der Menge umgerissenen Stuhl. Als er wieder aufstehen wollte, fühlte er sich am Kragen gepackt. Ein Schutzmann in voller Uniform nahm ihn fest. Unwillkürlich griff Julian nach seinen Pistolen, aber ein zweiter Gendarm fiel ihm in den Arm.
Man führte ihn ins Gefängnis ab, steckte ihn in eine Zelle und legte ihm Ketten an. Dann verließ man ihn, und die Tür ward fest verschlossen. Alles das geschah in rascher Folge.
Unempfindlich ließ er alles geschehen. Als er zur klaren Besinnung kam, sagte er sich: »Ja, ja, nun ist alles aus! In vierzehn Tagen stehe ich vor der Guillotine … wenn ich mich bis dahin nicht selber umgebracht habe…«
Mehr vermochte er nicht zu denken. Es war ihm, als würde ihm der Kopf mit aller Gewalt zusammengepreßt. Er blickte um sich. Er hatte die Empfindung, als habe ihn jemand angefaßt. Nach einer Weile schlief er fest ein.
Frau von Rênal war nicht tödlich verwundet. Die erste Kugel hatte ihren Hut durchbohrt. Gerade als sie sich umwandte, war der zweite Schuß losgegangen. Die Kugel war bis auf das Schulterblatt eingedrungen, hatte den Knochen zerschmettert, war dabei aber zurückgeprallt und gegen eine der gotischen Säulen geflogen, aus der ein Stück Stein abgesprengt ward.
Als ihr der Wundarzt, ein ernster Mann, nach schmerzhafter Umständlichkeit einen Verband angelegt hatte, erklärte er: »Ich stehe Ihnen für Ihr Leben wie für das meine!« Da ward sie tieftraurig.
Seit langem hegte sie aufrichtige Todessehnsucht. Der Brief an Herrn von La Mole, den ihr jetziger Beichtvater ihr abgezwungen hatte, versetzte ihrem durch beständiges Herzeleid zerrütteten Gemüt den letzten Stoß. Dies Herzeleid hatte seinen Grund in der Trennung von Julian. Sie nannte es freilich Reue. Ihr Seelsorger, ein tugendhafter junger Eiferer, der erst kürzlich aus Dijon hergekommen war, täuschte sich über ihren Zustand nicht.
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