Das Gleichnis machte ihm Spaß und lenkte ihn ab.
Als er am andern Morgen aufwachte, schämte er sich des vergangenen Tages. »Mein Glück hängt von meiner Ruhe ab«, sagte er sich. Er war nahe daran, an den Gefängnisdirektor zu schreiben und ihn zu bitten, niemanden mehr zuzulassen. »Und Fouqué?« fiel ihm ein. »Wenn er es über sich gewinnt, nach Besançon zu kommen: wie sehr würde es ihn betrüben, mich nicht zu sehen!«
Seit etwa acht Wochen hatte er nicht mehr an seinen Freund gedacht. »Was für ein großer Tor war ich in Straßburg!« sagte er sich. »Meine Gedanken klebten am Kragen meiner Attila.« Die Erinnerung an Fouqué« beschäftigte ihn stark und stimmte ihn von neuem weich. Erregt ging er hin und her. »Jetzt stehe ich entschieden zwanzig Grad unter dem Gleichmut zum Tode! Wenn diese Sentimentalität noch schlimmer wird, wäre es am besten, ich bringe mich selber um. Wie hämisch würden sich Maslon, Valenod und Genossen freuen, wenn ich als Memme stürbe!«
Fouqué kam in der Tat. Der schlichte biedere Mensch war außer sich vor Schmerz. Soweit er überhaupt imstande war, einen Gedanken zu fassen, war es der: all sein Hab und Gut zu verkaufen, den Gefängniswärter zu bestechen und den Freund zu retten. Er unterhielt sich mit Julian über die Flucht des Grafen von Lavalette.
»Du tust mir weh«, sagte Julian. »Lavalette war unschuldig. Ich aber bin schuldig. Ohne daß du es willst, bringst du mir den Unterschied zum Bewußtsein … Übrigens sage mir: Ist es wahr, daß du all dein Hab und Gut verkaufen könntest?«
Er war mit einem Male mißtrauisch und lauerig geworden.
Fouqué war hocherfreut, daß sein Freund endlich auf den Hauptpunkt seiner Gedanken einging. Auf Heller und Pfennig rechnete er ihm vor, wieviel er aus seinen verschiedenen Liegenschaften herausschlagen könne.
»Edelmütiger kann ein Mann seines Schlages nicht sein!« dachte Julian bei sich. »Er will mir alles opfern, was er, bis zur Knickrigkeit sparsam, bis zur Schäbigkeit schachernd, zusammengescharrt hat. Ich habe mich oft für ihn geschämt, wenn ich ihm so zusah. Die feinen Kulturmenschen im Umkreise des Hauses La Mole haben derartige Lächerlichkeiten nicht an sich; sie haben Chateaubriands Rene gelesen. Aber wer von ihnen wäre eines solchen Opfers fähig?«
Fouqués Ungebildetheit und schlechte Manieren vergessend, fiel ihm Julian um den Hals. Voller Entzücken hielt der Biedermann das Feuer, das im Moment in des Freundes Augen leuchtete, für Einwilligung zur Flucht.
Angesichts solcher Opferfreudigkeit gewann Julian alle die Kraft wieder, die ihm Chélans Erscheinen genommen hatte. Er war noch sehr jung, immerhin doch wohl Edelgewächs. Bei den meisten Menschen schlägt Zärtlichkeit in Verschlagenheit um. Seine Entwicklung hätte einen andern Gang genommen; je älter er geworden wäre, um so mehr hätte sein Herz gesprochen, und sein tolles Mißtrauen hätte sich gelegt…
Er wurde immer häufiger verhört, obwohl er sich Mühe gab, das Verfahren durch klare Antwort auf jegliche Frage abzukürzen. Jedesmal wiederholte er: »Ich habe einen Mord begangen, zum mindesten mit Vorsatz begehen wollen.« Aber der Untersuchungsrichter war ein Buchstabenmensch. Für ihn gab es keine Abkürzungen. Im Gegenteil, er fühlte sich in seiner Juristeneitelkeit gekränkt und wurde nun erst recht umständlich.
Julian erfuhr nicht, daß man ihn in ein abscheuliches Verlies hatte bringen wollen und daß es nur Fouqués Bemühungen zu danken war, wenn man ihn in seinem freundlichen Turmgemach ließ.
Zu den einflußreichen Leuten, die ihr Holz von Fouqué bezogen, gehörte auch der Großvikar von Frilair. Es gelang dem braven Holzhändler, sich bei diesem allmächtigen Manne Gehör zu verschaffen. Sein Jubel war grenzenlos, als ihm Frilair erklärte, da er Julians frühere Leistungen im Seminar und seine guten Eigenschaften hochschätze, werde er ihn dem Wohlwollen der Richter bestens empfehlen. Fouqué faßte Hoffnung, seinen Freund zu retten. Als er vom Großvikar ging, bat er ihn unter einem tiefen Kratzfuß, für hundert Taler Messen lesen zu lassen, um vom Himmel den Freispruch des Angeklagten zu erflehen.
Fouqué irrte sich stark. Frilair war kein Valenod. Er lehnte ab und versuchte dem Biedermanne aus den Bergen sogar beizubringen, daß er sein Geld besser verwenden könne. Als er aber die Unmöglichkeit einsah, sich verständlich zu machen, ohne sich bloßzustellen, gab er den Rat, das Geld den armen Gefangenen zu stiften, denen es in der Tat am Nötigsten fehlte.
»Dieser Julian ist ein sonderbarer Kauz«, dachte Frilair bei sich. »Seine Tat ist mir unerklärlich. Und doch sollte es für mich nichts Unerklärliches geben … Könnte ich nicht aus ihm einen Märtyrer machen? Auf jeden Fall muß ich hinter das Geheimnis der ganzen Geschichte kommen. Vielleicht läßt sich die Sache benutzen, um mich mit Herrn von La Mole in vorteilhafter Weise auszusöhnen. Er hat ein Faible für das Bürschchen.«
Der Vergleich in seinem Prozesse mit dem Marquis war vor wenigen Wochen unterzeichnet worden, und der Abbé Pirard hatte Besançon nicht verlassen, ohne eine Bemerkung über Julians geheimnisvolle Herkunft fallen zu lassen. Zufällig war das an dem Tage gewesen, an dem der Unglückliche sein Attentat auf Frau von Rênal in der Kirche von Verrières verübte.
Zwischen sich und dem Tode sah Julian nur noch ein unangenehmes Ereignis: den Besuch seines Vaters. Er fragte Fouqué, wie er über ein Gesuch an den Gerichtspräsidenten dächte. Er wolle bitten, von jedwedem Besuche verschont zu bleiben. Solcher Widerwille vor dem Angesicht eines Vaters, zumal unter Umständen wie hier, wirkte auf das brave Spießbürgergemüt des ehrsamen Holzhändlers wie ein kalter Wasserstrahl. Er bildete sich ein zu begreifen, warum sein Freund von so vielen Leuten glühend gehaßt wurde. Aber aus Rücksicht auf sein Unglück verhehlte er ihm seine Empfindungen. Kühl gab er ihm zur Antwort: »Die Genehmigung eines derartigen Gesuches würde sich nicht auf deinen Vater erstrecken.«
Am andern Morgen öffnete sich die Tür des Turmzimmers sehr früh. Julian fuhr aus seinem Schlafe auf. »O Gott!« dachte er. »Jetzt kommt mein Vater. Welch unangenehmer Auftritt!«
Im selben Augenblick fiel ihm eine Frau in Bauerntracht um den Hals. Er erkannte sie kaum. Es war Mathilde.
»Du Böser! Erst durch deinen Brief habe ich Kenntnis, wo du warst! Was du dein Verbrechen nennst, ist edle Rache, die mir deine Hochherzigkeit offenbart. Ich habe in Verrières erfahren…«
Trotz seines Vorurteils gegen Fräulein von La Mole, das er sich übrigens nicht recht eingestand, gefiel sie ihm ungemein. Aus ihrer Art, zu handeln und zu sprechen, erkannte er ihre edle, uneigennützige Absicht, die turmhoch über allem stand, was eine kleine Alltagsseele gewagt hätte. Wieder hatte er das Gefühl, eine Königin zu lieben, und nach etlichen Augenblicken sagte er, erlesen in Ausdruck und Sinn:
»Ich schaue deutlich in die Zukunft. Nach meinem Tode heiratest du Herrn von Croisenois, sozusagen als Witwe. Das edle, nur etwas romantische Gemüt dieser reizenden Witwe ist durch ein seltsames, großes, tragisches Erlebnis entthront und zur Weltanschauung des Durchschnitts bekehrt. Du geruhst die tatsächlichen Vorzüge des jungen Marquis zu würdigen. Du schickst dich in das, was die andern Glück nennen, in Ansehen, Reichtum, gesellschaftlich hohen Rang. Liebe Mathilde, daß du nun aber hier in Besançon erschienen bist, das wäre, falls es ruchbar wird, ein neuer schwerer Schlag für deinen Vater. Das könnte er dir niemals verzeihen. Ich habe ihm schon so sehr viel Kummer bereitet. Er hat eine Schlange an seinem Busen genährt, wie es im Stile der Akademiker heißt…«
Nicht ohne Groll unterbrach ihn Mathilde. »Ich gestehe, auf so kühle Besonnenheit, auf so viel Sorge um die Zukunft war ich nicht gefaßt. Meine Kammerfrau, auch so umsichtig wie du, hat sich einen Paß verschafft, und so bin ich als Frau Michelet mit der Post hergeeilt …«
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