»So bleibt sie am Leben!« flüsterte er vor sich hin. »Sie wird leben … mir verzeihen … mich lieben!«
Am nächsten Morgen weckte ihn der Kerkermeister sehr spät.
»Sie müssen Nerven aus Eisen haben!« meinte er. »Ich bin schon zweimal dagewesen, wollte Sie aber nicht wecken. Hier sind zwei Flaschen Wein bester Sorte. Unser Pfarrer, Herr Maslon, schickt sie Ihnen …«
»Was? Der Spitzbube ist noch immer im Ort?« unterbrach ihn Julian.
»Freilich, Herr Sorel!« erwiderte Noiroud mit verhaltener Stimme. »Sprechen Sie nur nicht so laut! Es könnte Ihnen schaden.«
Julian lachte herzlich.
»An dem Punkte, wo ich angelangt bin, mein Verehrtester«, sagte er, »könnten nur Sie mir schaden, indem Sie aufhörten, freundlich und menschlich mit mir zu sein…« Sich schnell verbessernd, setzte er in herrischem Tone hinzu, der durch die Gabe eines Goldstückes sanktioniert wurde: »Sie sollen auch gut belohnt werden!«
Noiroud berichtete abermals bis in alle Einzelheiten, was er über Frau von Rênals Zustand gehört hatte, nur verheimlichte er, daß Jungfer Elise bei ihm gewesen war.
Eine ordinärere Knechtsnatur gab es nicht so leicht. Einen Moment hatte Julian den Gedanken: Der Prolet hat keine drei-bis vierhundert Franken Jahreseinkommen. Und viel benutzt ist das Gefängnis nicht … Wenn ich ihm zehntausend Franken zusichere, brennt er mit mir nach der Schweiz durch … Das einzig Schwierige dabei wäre, ihn zu überzeugen, daß ich mein Versprechen auch halte…«
Aber die Vorstellung, mit dem Kerl lange reden zu müssen, war ihm widerlich. Er dachte an etwas andres.
Am Abend war es bereits zu spät. Um Mitternacht wurde er durch einen Postwagen abgeholt. Die Gendarmen, die ihn geleiteten, benahmen sich zu Julians voller Zufriedenheit.
Als er frühmorgens im Stadtgefängnis von Besançon ankam, wurde er zu seiner Freude im obersten Stock eines gotischen Turmes untergebracht. Julian schätzte die Bauweise des vierzehnten Jahrhunderts und bewunderte ihre Anmut und Leichtigkeit. Durch eine Scharte hatte er über einen tiefen Hof hinweg die wunderbarste Fernsicht.
Am nächsten Vormittag fand ein Verhör statt. Alsdann ließ man ihn ein paar Tage unbehelligt. Sein Gemütszustand war ruhig. Die Lage dünkte ihn ureinfach: »Ich habe töten wollen: also werde ich getötet!«
Weiter gingen seine Gedanken nicht. Die Hauptverhandlung, das Erscheinen vor der Öffentlichkeit, die Verteidigung, das Urteil, alles das erachtete er für belanglose Belästigungen und ärgerliche Formalitäten, an die vorher zu denken keinen Sinn hatte. Ebensowenig beschäftigte ihn der Augenblick der Hinrichtung. »Das hat Zeit bis nach meiner Verurteilung!« sagte er sich. Das Leben kam ihm durchaus nicht langweilig vor. Er sah alles wie mit neuen Augen an. Sein Ehrgeiz war dahin. Selten nur dachte er an Mathilde. Seine Reue nahm ihn ganz in Anspruch. Sie führte ihm häufig die Gestalt der Frau von Rênal vor das Auge, besonders in der Stille der Nächte, die in dem hochgelegenen Turmzimmer nur durch den Schrei eines Adlers unterbrochen wurde.
Er dankte dem Himmel dafür, daß er sie nicht zu Tode getroffen hatte. »Eins ist wunderbar«, dachte er bei sich. »Erst glaubte ich, mein künftiges Glück sei durch den Brief an den Marquis auf immerdar zerstört. Und jetzt, nach kaum vierzehn Tagen, denke ich schon nicht mehr an das, was mir damals nicht aus dem Sinn kam! Wenn ich noch einen Wunsch haben dürfte, so wäre es der: mit zwei-, dreitausend Franken im Jahre still in einem Gebirgsdorfe wie Vergy zu leben. Damals war ich glücklich! Ach, ich kannte mein Glück nicht!«
In andern Augenblicken sprang er plötzlich vom Stuhl auf. »Wenn ich Frau von Rênal tödlich getroffen hätte, so hätte ich Selbstmord begangen. Ich muß diese Überzeugung ganz fest halten. Sonst müßte ich mich selber verachten.«
»Selbstmord! Wäre er nicht auch so angebracht? Das will wohl überlegt sein. Was hat es für Zweck, erst vor die Richter zu treten, diese Paragraphenknecht, die auch den besten Bürger an den Galgen bringen, wenn sie einen Orden dafür bekommen! Ich kann mich ihrer Macht entziehen, den Schikanen ihrer miserablen Juristensprache, die man in den Amtsblättern forensische Beredsamkeit nennt…«
»Fünf bis sechs Wochen länger leben oder nicht?« sagte er sich ein paar Tage später. »Beim Teufel, ich bleibe leben! Napoleon hat auch weitergelebt. Übrigens ist mein Dasein angenehm. Ich habe einen friedsamen Wohnort. Langeweile habe ich auch nicht.«
Er lachte und schrieb ein paar Bücher auf, die ihm in Paris besorgt werden sollten.
Draußen auf dem Gange machte sich großer Lärm vernehmbar. Es war nicht die Stunde, in der man sonst in seine Zelle hinaufkam. Der Adler flatterte schreiend davon. Die Tür ging auf, und der ehrwürdige greise Pfarrer Chélan warf sich zitternd, den Stock noch in der Hand, in Julians Arme.
»O mein Gott! Wie ist es möglich! Mein Sohn … Unmensch wollte ich sagen …«
Der gute alte Mann vermochte kein Wort weiter zu reden. Julian fürchtete, er könne umfallen. Er mußte ihn nach einem Stuhle geleiten. Das Alter lastete schwer auf dem einst so willensstarken Manne. Er kam Julian nur noch wie der Schatten seiner einstmaligen Erscheinung vor.
Als er wieder zu Atem gekommen war, sagte er: »Erst vorgestern habe ich Ihren Brief aus Straßburg mit den fünfhundert Franken für die Armen von Verrières erhalten. Man hat ihn mir ins Gebirge nachgesandt, nach Liveru, wo ich mich bei meinem Neffen Hans zur Ruhe gesetzt habe. Gestern erfahre ich den schrecklichen Vorfall … Allmächtiger, wie ist das möglich?«
Der Greis hatte aufgehört zu weinen. Sichtlich keines klaren Gedankens mehr fähig, setzte er mechanisch hinzu: »Sie werden Ihre fünfhundert Franken nötig haben. Ich bringe sie Ihnen wieder.«
»Nötig habe ich nichts als Euer Hochwürden!« entgegnete Julian gerührt. »Geld habe ich vollauf.«
Des weiteren bekam er nichts Vernünftiges mehr aus dem alten Manne heraus. Von Zeit zu Zeit traten einzelne Tränen in Chélans Augen, die er schweigend über seine Wangen hinabrollen ließ. Dann schaute er Julian an und sah wie geistesabwesend zu, daß Julian seine Hände nahm und an seine Lippen führte.
Bald darauf erschien ein Bauernbursche, um den Alten abzuholen.
»Man darf nicht mehr viel von ihm verlangen«, sagte er zu Julian. Es war offenbar der Neffe.
Als die beiden fort waren, versank Julian in schmerzliche tränenlose Grübelei. Alles erschien ihm trüb und trostlos. Es war ihm zumute, als höre sein Herz auf zu klopfen. Das war das grausamste Erlebnis, das ihm seit seiner Freveltat widerfuhr. Jetzt sah er den Tod vor sich in aller seiner Häßlichkeit. Alle seine Illusionen von Seelengröße und Heldentum waren zerstoben wie Wolken vor dem Sturm.
Diese qualvolle Stimmung währte mehrere Stunden. Gegen solche Seelenvergiftung gibt es physische Heilmittel, zum Beispiel Champagner. Aber Julian hielt es für feig und verächtlich, seine Zuflucht dazu zu nehmen.
Als der Schreckenstag, an dem er in einem fort in seinem engen Turmgelaß hin und her gewandelt war, endlich zur Rüste ging, rief Julian aus: »Was bin ich für ein Narr! Wenn ich sterben müßte wie andere, dürfte mich der Anblick dieses armen alten Mannes in diese schreckliche Traurigkeit versetzen. So aber winkt mir ein rascher Tod in der Blüte meines Daseins, der mich vor so trübseligem menschlichem Verfall bewahrt…«
Aber welche Gründe er auch hervorsuchte, er blieb doch infolge dieses Besuches niedergedrückt. Er schalt sich rührselig und kleinmütig. Es war nichts Herbes und Großartiges mehr in ihm, kein römisches Mannestum. Der Tod stand vor ihm wie ein Riese, wie ein Despot, so gar nicht mehr als etwas Leichtes und Schönes.
»Der Stimmungsmesser meiner Seele!« scherzte er. »Heute abend stehe ich zehn Grad unter dem Mute, den ich auf meinem Gange zur Guillotine brauche. Heute früh war ich auf Normalnull. Aber was tut’s? Wenn das Barometer nur im rechten Augenblicke steigt.«
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