Er war nicht wirklich offen für eine neue Beziehung.
Wenn er nächtens alleine im Bett lag, musste er an seinen Urlaub in Amsterdam zurückdenken und daran, dass er es verpasst hatte, sich in einem erotischen Kerker einer Domina auszuliefern. Es quälte ihn eine anonyme Sehnsucht. Ein verbotenes Magma der sexuellen Fantasie umglühte sein Bewusstsein und bedrohte seine Selbstbeherrschung. Hebeisen fürchtete sich davor, die Tür auch nur einen Spaltbreit zu öffnen. Trotzdem überblätterte er in der Zeitung neuerdings nicht mehr die Sexanzeigen und stachen ihm die Werbungen für sadomasochistische Dienstleistungen ins Auge.
Ziellos schlenderte er durch Erotikshops und liess sich in den SM-Abteilungen vom Anblick des Spielzeugs, der Instrumente und der schwarzen Möbel erregen.
Er wollte sich selbst akzeptieren, um frei zu werden für ein normales Leben und für eine Beziehung, die seiner Persönlichkeit entsprach.
Die Tatsache, dass er als angehender Erwachsener für seine Sexualität noch über kein geeignetes Ventil verfügte, verursachte ihm zuweilen geradezu panische Schübe. Es kultivierte einen Exhibitionismus, den er gleichzeitig verzweifelt zu unterdrücken versuchte. Es äusserte sich in einem auffälligen, aber unbewussten Hang zu Intimitäten.
Er las «Venus im Pelz» von Leopold von Sacher-Masoch und fand Gefallen daran, nicht zuletzt an der schönen verlegerischen Ausgabe. Die Werke von Marquis de Sade erregten in ihm hingegen einen tiefen Ekel, vor allem die darin beschriebene gesellschaftliche Gewalt gegen Frauen. Er las die Bücher abends und am Wochenende im Bett und nahm sie, im Gegensatz zu anderen Lektüren, nicht mit ins Café oder an den See. Er setzte sich während jener Zeit gerne ins «Strozzis» im benachbarten Centralhof oder, je nachdem wenn die Sonne schien, auf eine der zahlreichen Bänke am General Guisan-Quai, wo man zwischen den Kapiteln den Schiffen beim An- und Ablegen zuschauen konnte.
Die Faszination gegenüber dem Thema drängte seinen malerischen Ehrgeiz stark in den Hintergrund. Hebeisens Skizzenbuch sollte in dieser Zeit beinahe unangerührt bleiben. Aber nicht etwa, weil sich der Künstler in ihm nicht in Aufruhr befunden hätte. Der wurde in dieser Phase nämlich sehr wohl von einer ganzen Reihe von bizarren Fantasien heimgesucht. Aber sie wirklich aufzuzeichnen, davor sollte der werdende Bürger Hebeisen letzten Endes stets zurückschrecken.
Er spielte mit dem Gedanken, an einer SM-Party teilzunehmen, verwarf dann aber die Idee. Es gingen schliesslich auch nicht alle normalen Heteros in einen Swinger-Club, argumentierte er gegenüber sich selbst, um dem starken widersprüchlichen Verlangen Herr zu werden.
An Parties teilzunehmen, wie sie von Mitstudenten jedes zweite Wochenende organisiert wurden, geriet für ihn zu einem zusätzlichen Problem. Hebeisen übte auf die Frauen seines Alters nämlich eine starke Anziehung aus. Er hatte jede Menge Angebote. Gleichzeitig war ihm klar, dass es beim nächsten Mal nicht mehr so sein konnte wie mit Tonia. Es führte dazu, dass er sich von allen Verehrerinnen, und mochten sie noch so attraktiv sein, irgendwann zurückzog, weil er innerlich noch nicht zum Mut gefunden hatte, den Schritt zu machen: mit einer Partnerin hindurchzugehen .
In einer Zeit, da sich alle seine Kollegen die Hörner abstiessen, musste Hebeisen feststellen, dass seine Neigung zwischen ihn und die Frauen, die er begehrte, einen Keil trieb, der ihn tief in der Seele verletzte und ihm einen Schmerz auslöste, von dem er bereits ahnte, dass er ihn Zeit seines Lebens nicht mehr loswerden würde. Damit lud er nicht nur Leid auf sich. Es verursachte ihm auch Schuldgefühle.
Es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Sein Elternhaus hatte ihn eingeholt und knebelte ihn mit der ganzen Ohnmacht des autoritär erzogenen Hochsensiblen. Hebeisen stand daneben und musste zusehen, wie es passierte.
Begonnen hatte alles in den Sechzigerjahren, noch bevor Christian Hebeisen geboren worden war.
Vater Heinz hatte damals angefangen, seine militärischen Wiederholungskurse in der Nachbarsgemeinde Hinwil zu absolvieren. Dort, am westlichen Dorfrand, befand sich das sogenannte AMP, der grosse Armeemotorfahrzeugpark mit seinen flachen unauffälligen Bauten und den schmalen Teerstrassen, auf denen der Probeverkehr durch den Moosstock und das Pilgerwegholz kreiseln konnte. An drei Wochen im Jahr war er hier, am Fuss des Bachtels, zwischen den Schiessübungen als Soldat um die Revisionen von Armeelastwagen bemüht, um Materialtransporte, um Tarnanstriche und um den Fahrzeugputz.
Heinz Hebeisen wusste nicht, womit er es verdient hatte. Seine Rekrutenschule hatte er nämlich als einfacher Lastwagensoldat bei den Transporttruppen in Thun absolviert: Panzerparaden, Schiessverlegung in den Berner Alpen, Kilometermarsch, Dosenfleisch, Gamellenteigwaren. Er hatte eben seine Berufslehre beendet, und es stand ihm sein Ingenieurstudium am Technikum in Rapperswil bevor. Als Rekrutenschüler fiel er positiv auf, er hatte den Respekt der Vorgesetzten und der Kameraden, jedoch keine Ambitionen aufs sogenannte Weitermachen, was respektiert wurde.
Heinz ging davon aus, auch für seine Wiederholungskurse ins Bernische aufgeboten zu werden. Es kam anders. Jemand, der es offensichtlich gut mit ihm meinte, liess ihn danach nämlich nicht in einen regulären Dienst einrücken, sondern bot ihn dazu auf, seine verbleibenden Diensttage in unmittelbarer Nachbarschaft zu seiner Heimatgemeinde abzuleisten. Aber damit nicht genug. Er war um die fünfundzwanzig Jahre alt, als er vom Kommando dazu abdetachiert wurde, die Funktion eines Ordonnanzfahrers auszufüllen, um für den Rest seiner Dienstpflicht im Jeep hohe Offiziere zu chauffieren. Man wollte nicht, dass er sich noch länger die Hände schmutzig machte. Es führte dazu, dass Heinz sein Sturmgewehr, sein Stgw 57, im Zeughaus Rapperswil abgeben konnte, um stattdessen eine leichtere Pistole zu beziehen.
Er bedankte sich für das Privileg mit einem offiziellen Brief.
Inzwischen hatte er Esther kennengelernt, und die beiden waren übereingekommen, nach Abschluss seines Studiums zu heiraten und eine Familie zu gründen.
Es war die Zeit, in der Heinz Hebeisen die folgenschwere Bekanntschaft mit Harald Grendelmeier machte.
Grendelmeier, ein herrischer Oberst in den Vierzigern, war der erste und der einzige Vorgesetzte, dem Heinz Hebeisen während seiner Widerholungskurse als Fahrer zur Verfügung stehen sollte. Im zivilen Leben war er als Anwalt für eine Grossbank tätig, mit Büro an der Genferstrasse in Zürich. Er war ein kalter Chauvinist. Er hatte graues, krauses Haar und eingefallene, fahlbraune Wangen. Er trug eine bundesrätliche Hornbrille, und an der Stelle seines Magens klaffte eine Grube, was seine uniformierte Gestalt auf Gürtelhöhe ins Lächerliche zog. Trotz seiner hohen Stellung besass er einen krankhaften, unkontrollierten Zug ins Respektlose und einen selbstgerechten Tick ins Erzieherische. Er war ein miserabler Zuhörer, der andern Menschen ständig ins Wort fiel. Er war gönnerhaft und humorlos.
Heinz Hebeisen mochte Harald Grendelmeier.
Stunden verbrachte er damit, im offenen Jeep, im Puch oder im hellbraunen VW Golf vor Kasernen und Gasthöfen auf ihn zu warten, während er die Zeitung las, einen Kaffee trank oder sonst eine Freiheit genoss, die andern Soldaten von seinem Rang verwehrt blieb.
Er hatte einzig auf seinen Schlaf zu achten und darauf, dass der Vorrat an Benzinkanistern aufgefüllt war. Das Kartenstudium erledigte der um fünfzehn Jahre ältere Grendelmeier, der stets die Kontrolle wahren musste, in den meisten Fällen selbst.
Ihre gemeinsamen Fahrten brachten die beiden Männer näher zusammen, wobei sie oft zwischen den Jahreszeiten im Glarnerland unterwegs waren, im Rheintal und auf den Seitenstrassen des Linthgebiets.
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