Es war etwas, von dem sie Hebeisen nicht allzu viel erzählte.
Auf beiden Seiten begannen sich jene schmerzlichen Symptome zu häufen, die das Ende ihrer Beziehung markierten.
Als Hebeisen an einem der kommenden Samstage alleine den Flohmarkt in der Zürcher Stadthausanlage aufsuchte, um wie gewohnt durch das antiquarische Angebot an Bildbänden und Malutensilien zu stöbern, sollte er eine folgenschwere Entdeckung machen.
Zwischen den schweren Kunstbüchern steckte eine abgegriffene Ausgabe der «Geschichte der O» von Pauline Réage.
Die Titelillustration verschlug Hebeisen für Momente den Atem.
Sie zeigte eine halbnackte bleiche Frau in goldenen Fesseln und in einem aufgerissenen Rokoko-Kleid. Ihre Augen waren der schönen Sklavin verbunden worden.
Der Händler verlangte fünf Franken für die erotische Lektüre, der Preis stand mit Bleistift auf die Innenseite des Buchdeckels geschrieben. Hebeisen entfernte den dunkelgrünen Schutzumschlag, so dass dem Buch seine erwachsene Natur nicht mehr anzusehen war, und bezahlte klopfenden Herzens.
Hebeisen sollte die Geschichte nie zu Ende lesen.
Der Text war ihm zu altmodisch, zu trivial und zu prätentiös.
Trotzdem wühlte ihn die Existenz des Buches auf.
Irgendetwas in ihm drin hatte Leck geschlagen, als er darauf gestossen war, und die Tatsache erfüllte sein Empfinden neuerdings mit einer dunklen, unerklärlichen Schwäche. Es handelte sich um etwas, worüber er mit niemandem reden konnte. Zuletzt mit Tonia. Bei den Gedanken, die ihm im Zusammenhang durch den Kopf schossen, fühlte er sich nämlich schmutzig und pervers.
Die diffuse Not wich bald der Erkenntnis, dass seine erwachsenen sexuellen Wünsche mit der Realität seiner aktuellen Beziehung kollidierten. In seinen Fantasien identifizierte sich Hebeisen mit der devoten «O». Seine wahre geschlechtliche Identität wartete demnach auf der passiven Seite auf ihn.
Nach mehreren erotischen Erlebnissen mit sich alleine, die ihn gleichsam erlösten wie erniedrigten, kam Hebeisen zum Schluss, dass er ein Sklave war.
Als Tonia anrief, um ihm nicht ohne Traurigkeit mitzuteilen, dass es besser sei, wenn sie sich neben der Schule eine Zeitlang nicht mehr sehen würden, war Hebeisen einverstanden. Er wusste, dass sie niemand andern traf. Gleichzeitig hatte sich das heimliche Erwachen seiner neuen Leidenschaften während der letzten Wochen wie Betrug an seiner Freundin angefühlt, so dass er ohnehin zur Überzeugung gelangt war, dass Tonia die falsche Frau für ihn gewesen wäre.
Es war das Ende ihrer harmonischen Beziehung.
Seine letzten Ferien vor der Matura verbrachte Hebeisen alleine, indem er mit dem Zug nach Amsterdam reiste und dort für zehn Tage ein billiges Hotelzimmer bezog. Es ging ihm vor allem darum, alleine zu sein.
Er ass und trank viel. Er besuchte das Rijksmuseum, wo er stundelang Rembrandts «Nachtwache» studierte sowie die kleineren Werke Vermeers. Er verbrachte einen ganzen Tag im Vincent van Gogh-Museum. Er besuchte die Destillerie, in der das berühmte Heineken -Bier gebraut wurde. Abends streunte er durchs Redlight, wo er während des ganzen Urlaubs vor dem Besuch einer Folterkammer zurückschreckte. Trotzdem fühlte er sich wohl in der Stadt. Er empfand sich aufgehoben in etwas Protestantischem, das übers Kirchliche hinausging und von dem er spürte, dass er es ernst nehmen konnte. Es hatte nicht mit den Drogen zu tun oder dem freizügigeren holländischen Umgang mit Sexualität. Der machte ihm nämlich eher zu schaffen. Hebeisen brauchte eine Weile, um sich bewusst zu werden, dass er sich vielmehr in einer Umgebung bewegte, in der eine offene Minderheitenkultur gepflegt wurde. Es führte zur unangenehmen Empfindung, dass er in einer solchen Welt bloss Zaungast war, weil es ihm bei seinem Entwicklungsstand an der nötigen Bereitschaft zum Schmerz fehlte, mit dem ein ernsthaftes Eintreten verbunden gewesen wäre. Beim einsamen Biertrinken in der spätherbstlichen Sonne musste Hebeisen oft an seine Eltern denken und daran, dass es in seinem Leben nie wirklich zu einer echten Freundschaft gekommen war. Es waren sehr erwachsene Gedanken.
Das holländische Fernsehen zeigte in einer Gewitternacht «Diamonds Are Forever», nämlich als Hebeisen auf seinem kleinen Hotelzimmer bei geöffnetem Fenster nicht einschlafen konnte. Auf seinem Nachttisch standen und lagen mehrere kleine Fläschchen von Johnny Walker . Er sah den Bond-Film nicht zum ersten Mal. Aber jetzt mochte er nicht mehr den Chauvinismus, die Homophobie, den Tanz ums Rothaarige und das Kirchliche darin, auch wenn es sich wahrscheinlich um die beste musikalische Tonspur der Serie handelte.
Im Nachtzug kehrte er nach Zürich zurück. Bei der Einfahrt in den Hauptbahnhof empfand er diesmal leise Gefühle der Depression. Die alte Heimat zu erreichen, die sich dazwischen nicht verändert hatte, fühlte sich ein bisschen an wie Sterben.
Seit er denken konnte, war sein Vater ein schlechter Verlierer gewesen.
Wenn Heinz Hebeisen beim Tischtennisspiel gegen eines seiner Kinder unterlag, dann nur deshalb, weil er sich gerade sein Handgelenk verletzt hatte oder weil er unter sonst einer Indisponiertheit litt, die jeweils an den Haaren herbeigezogen war. Es war ein Muster, das sich im Alltag wiederholte. Wer in der Familie glaubte, sich in der Situation gegen den Vater durchgesetzt zu haben, der hatte die Rechnung ohne dessen Spiessigkeit und ohne dessen Gedächtnis gemacht. Es kam stets zurück. Heinz Hebeisen kürzte seinen Kindern dann das Taschengeld, beschämte sie vor Bekannten oder werkte ihnen anderweitig zu leide, und dies auch noch zu Zeitpunkten, an denen es für die Betroffenen längst unmöglich sein musste, einen Zusammenhang herzustellen zwischen der väterlichen Aggression und dem auslösenden Ereignis. Hebeisen lernte dadurch früh, dass ein Wesenszug von Macht in Willkür bestand. Selbstverständlich führte es zu einem Klima, in dem zwischen den Generationen kein Vertrauen wachsen konnte.
Es zerstörte vieles.
So gab es unter dem Dach der Hebeisens keine Intimität. Persönliches konnte dadurch nicht zur Sprache kommen. Wer trotzdem ein sinnliches Thema aufbrachte, der riskierte, dass es für immer verdorrte unter der förmlichen Gleichbehandlung. Es konnte eine Quelle fürs Bedürfnis nach körperlicher Selbstverletzung sein, wie es Hebeisen im frühen Leben oft empfand, nämlich wenn er sich deswegen jeweils ausgerechnet in der Liebe zu spüren aufhörte. Gerade für ihn als Masochisten bedeutete es eine überaus verwirrende und belastende Komplikation seines Gefühlslebens.
Es war nicht nur so, dass Hebeisen ohne Liebe aufwuchs. Das besitzergreifende Verhalten seines Vaters entwand ihm zugleich die Mittel, um der Kälte etwas entgegenzusetzen. Die Kinder Heinz Hebeisens waren keine Individuen. Für den Vater stellten sie ganz einfach eine Erweiterung seiner eigenen Persönlichkeit dar, weshalb er ständig ihre Integrität ignorierte, vor allem jene von Christian, dem jüngsten, nämlich indem er sich gedankenlos seines Lebens selbst bediente und dadurch alle Bemühungen um Autonomie im Frühstadium zerstörte.
Grosszügigkeit wurde jenem Kind zu teil, das den Missbrauch akzeptierte und mithalf, Heinz Hebeisens Grandiosität zu finanzieren. Wer dem Vater die Selbstbestätigung hingegen verwehrte, der musste mit der strafenden Empfindung zurechtkommen, bei den eigenen Eltern bloss in Untermiete zu leben. Dann reute sie das Essen, das Geld und die Zeit.
Der fortwährende Diebstahl an Identität wog umso schwerer, als sich die Eltern dagegen in keinem Moment dazu hinreissen liessen, von ihrem eigenen Leben auch nur ein Detail preiszugeben. Bei Hebeisen hatte es stets den Eindruck erweckt, als hätten Mutter und Vater alleine in der Gegenwart existiert. Alles schien an ihnen vorbeigegangen zu sein: Kennedy, die Beatles, Vietnam, 68, Baader Meinhof, Disco. Bei den einzigen Dingen, die ihre Vergangenheit definierten, handelte es sich um die Mondlandung, um ihre Heirat und um die Geburt ihrer drei Kinder. Den Rest borgten sie sich schamlos beim Nachwuchs, denn das Vakuum wollte täglich gefüllt werden.
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