Als Eingänge zum Saal dienen die beiden Portale an der Seite, vor denen punktgenau die geschwungenen Treppen enden. Ein abgewetzter Perserteppich, von verbogenen Messingstangen hoffnungsvoll am Boden gehalten, weist den Weg.
Der Saal ist bereits gerammelt voll, ein Teil der Gäste hat am Tisch Platz genommen, doch die meisten stehen herum, schwatzen und lachen.
Beleuchtet wird das Zimmer von einem riesigen Kronleuchter, der hoch über dem Tisch schwebt. Nur einzelne Lichter sind an, in unregelmässigen Abständen, offenbar wurden die defekten Glühbirnen schon seit Jahren nicht mehr ausgewechselt. Als Ausgleich für das spärliche Licht stehen überall brennende Kerzen, auf dem Boden, auf dem Tisch, auf den Fensterbänken.
Gleich nach dem Portal versperrt eine seltsame Skulptur den Weg: auf einem massiven Sockel prangt eine Figur aus grünem Stein, der man ebenfalls eine brennende Kerze auf den Kopf gepflanzt hat. Es ist eine massstabgetreue Abbildung von Meister Yoda aus den Star Wars-Filmen. Die grünen Ärmchen hat er ausgestreckt wie die Statue Cristo Redentor auf dem Berg hoch über Rio de Janeiro, als ob er uns allen – einem milden Priester gleich – den Segen erteilen wollte.
Der altehrwürdige Yoda ist von unten bis oben mit Schmuck behangen, filigrane Goldkettchen und schwere Silberungetüme, wie sie US-Rapper tragen, wetteifern um den Platz an seinem Hals, an den spitzen Fingern prangen unzählige Ringe. Anna lächelt erfreut, wie wir vor ihm stehen und nickt ihm gar zu, als ob sie einen alten Bekannten begrüssen würde. Aufgeregt packt sie mich am Arm: «Wir müssen ihm eine Opfergabe hinterlassen, das bringt Glück», tut sie mir kund, «komm, wir müssen ihm unbedingt etwas geben!» Was sie ihm anbieten will ist mir allerdings ein Rätsel, denn sie trägt keinerlei Schmuck. Doch sie blickt mich herausfordernd an, bückt sich und geht leicht in die Knie, um den Slip unter ihrem Kleid auszuziehen. Elegant manövriert sie das Ding an ihren High Heels vorbei, während sie sich locker mit der Hand auf meinen Arm stützt. Vorsichtig hängt sie den Slip dann an den rechten Arm des Jedi-Meisters, und als sie sich lachend zu mir umdreht, scheint es, als ob sich auch über den steinernen Mund unseres Yoda ein Lächeln zöge, doch dieser Eindruck ist wohl eher dem flackenden Licht geschuldet.
«Nun kann uns ja nichts mehr geschehen», urteile ich, und sie hängt sich lachend bei mir ein, damit wir wie ein altvertrautes Pärchen zur Tafel schreiten können.
Der Esstisch ist ein Ungetüm aus dunkelbraunem Holz, matt lackiert und an der Oberfläche rau, ja furchig, einzelne Gläser stehen bedrohlich schief. Umso edler ist das Geschirr: Kristallgläser vor jedem Platz, eins für Weiss- und eins für Rotwein, Teller aus Porzellan, Messer, Gabeln und Löffel aus Silber. Das Essen dampft in den Schüsseln, riesige Mengen von Risotto Nero, dem Reis, schwarz von der Tinte der Sepien, der unsere Zähne dunkel färben wird. Filiberto scheint solche Sachen zu lieben, nichts darf zu blank sein, schon gar nicht unser Mund, unsere Zunge, unsere Lippen.
Es gibt aber auch Töpfe mit Lammrücken und Huhn, Platten mit Fisch, etwa Sogliola oder Loup de Mer, dazu allerlei Beilagen wie Bohnen oder das lokale Gemüse Cima di Rapa.
Vitus sitzt bereits am Tisch, wir lassen uns neben ihm nieder. Mein Bruder versucht ein wenig mit einem Mädchen zu flirten, das ihm gegenübersitzt. Doch der Lärm im Raum vereinfacht die Konversation nicht eben; zudem spricht die Frau weder englisch noch italienisch, und so lässt er es bald bleiben.
Ich beuge mich vor, um eine der Rotweinflaschen zu ergattern, die auf dem Tisch herumstehen. Doch sie sind alle verschlossen, kein Flaschenöffner weit und breit. Als Vitus meinen ratlosen Blick sieht, schnappt er sich eine Flasche, geht damit zum Portal und beginnt sie rhythmisch an den Türrahmen zu schlagen. Und in der Tat: der hin und her schwappende Inhalt drückt den Zapfen nach und nach hinaus. Stolz kehrt Vitus mit seiner Trophäe zurück: «Habe ich von einem Clochard in Paris gelernt», sagt er und schenkt uns ein.
Links neben uns hat sich eine junge Französin niedergelassen, die eine Kette um den Hals trägt, an der winzige Glasfläschlein hängen. Da sei Absinth drin, verrät sie, sie braue das Getränk in der Badewanne ihrer Studentenbude. Anna wirft ein, das sei doch das Zeug von dem der Maler Vincent van Gogh wahnsinnig geworden sei und sich dann das Ohr abgeschnitten habe, doch die Französin verteidigt ihr Produkt mit Verve: Unsinn, Absinth werde nicht umsonst die «grüne Fee» genannt, denn wie ein Märchenwesen bringe das Getränk Glück und Wohlbehagen, man müsse nur mit der Dosis aufpassen, aber das sei ja bei allem so.
Wir bekommen je eine der Ampullen von ihr, zupfen den winzigen Zapfen vom Glas und nehmen einen Schluck. Viel mehr als ein paar Tropfen auf die Zunge gibt die Sache nicht her, aber immerhin: ein leicht bitterer Geschmack breitet sich im Gaumen aus, echt lecker.
Ich spüre, dass ich nun richtig Hunger habe und gehe ein paar Stühle weiter, um mir einen der sorgfältig filetierten Fische zu holen. Dazu etwas Reis und Gemüse, wunderbar. Anna deutet mit heftigen Handbewegungen an, ich solle viel auf den Teller laden, dann könnten wir zu zweit davon essen. Und so kehre ich mit einem reichlich überladenen Teller an meinen Platz zurück.
Das Dinner dauert mehrere Stunden, jeder kann essen wann er will, immer wieder werden neuen Schüsseln und Töpfe mit Essen aufgetischt, was kalt wird, wird zur Seite geschoben, halbvolle Teller werden auf dem Tisch liegen gelassen, in der Hoffnung, irgendjemand werde sie dann schon abräumen.
Einziger Fixpunkt des Abends ist die Tischrede von Filiberto, eine kurze Ansprache nur, aber die Leute lieben es, ihren Gastgeber sprechen zu hören. Er muss nicht umständlich mit dem Messer ans Glas schlagen, um die Aufmerksamkeit der Leute zu gewinnen, ein kleiner Wink mit der Hand genügt, und das Palavern und Besteckklimpern hört auf, links und rechts vom Kopfende des Tisches setzt sich ein Innehalten fort wie eine Reihe von fallenden Dominosteinen: die Leute verstummen und hören auf zu essen.
Filiberto steht auf, die Grissini-Stange, die er zum Salat knabberte, noch immer in der Hand. Im Aufstehen beisst er ein weiteres Stück ab, kauend lässt er den Blick schweifen über die Gästeschar am Tisch. Dann beginnt er zu reden, das Gebäck spitz in den Fingern wie ein Dirigent seinen Taktstock.
«Es freut mich, euch alle auch dieses Jahr wieder hier begrüssen zu dürfen», sagt er, macht eine kurze Pause, nimmt eine Serviette und wischt sich den Mund nochmals ab, um dann fortzufahren: «Ich hoffe, die Speisen stärken, beleben und erquicken euch. Mitternacht ist kurz vorbei, seit zehn Minuten ist Aschermittwoch und die Fastenzeit hat begonnen. In den kommenden vierzig Tagen bis zum Osterfest sind die Menschen dazu aufgerufen, Busse zu tun. Auch wir müssten unsere Festivitäten eigentlich nun beenden, doch ihr wisst, ich glaube nicht ans Fasten.» Wieder hält er kurz inne, diesmal um einen Schluck Wein zu nehmen. «Ich glaube aber an den Zucker, an die Eiweisse, an die Fette in diesen Speisen hier auf dem Tisch. Ich glaube an die Betriebsamkeit, die der Zucker auslöst, ich glaube an die Muskelmasse, die das Protein aufbaut, die euch die Kraft gibt zu tanzen, und ich glaube an das Fett, das eure Ärsche und Brüste formt. Ich wünsche euch guten Appetit meine Freunde. Der Winter war lang, lasst uns auf einen glühenden Sommer anstossen und darauf, dass wir uns nächstes Jahr alle hier wieder sehen.»
Er legt seinen Grissino nieder, die Leute klatschen, johlen, rufen: «Klar Filiberto» oder: «Mit dir immer». Anna schüttelt den Kopf, ein breites Grinsen im Gesicht: «Filiberto hat etwas den Hang zum Theatralischen», und greift in eine Schale mit Erdbeeren. Mit blossen Fingern tunkt sie die Leckerei in eine Tasse mit Sahne und will sie mir geben, doch ich schüttle den Kopf, ich hasse es, mich füttern zu lassen, doch das hat nichts mit Anna oder den Erdbeeren zu tun, ich mag ganz einfach keine unterwürfigen Gesten. Ich nehme mir selber eine Frucht aus der Schale. Anna ist wohl etwas beleidigt, denn sie stopft die Erdbeere meinem Bruder in den Mund, der sie annimmt, der elende Verräter.
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