Nach dem Essen ziehen wir uns um. Der Besitzer des kleinen Hotels um die Ecke hat uns von einem Fest auf einem Schiff draussen in der Lagune erzählt, dem Carnevale degli Artisti, dort wollen wir hin.
Vitus hetzt uns voran durch die Gassen, er will nicht zu spät kommen. Er habe gehört, es werde jeweils proppenvoll auf dem Boot: «Die lassen dich die Beine in den Bauch stehen, eine Stunde in der Kälte, ihr werdet sehen», warnt er, doch Luciano dämpft seinen Eifer: «Man kann an einem Anlass nur einen Fehler machen, nämlich zu früh zu kommen.» Ich verlasse mich in solchen Situationen lieber auf den Freund als auf den Bruder, denn etwas muss man Luciano lassen: er hat ein Gefühl für Timing wie kein anderer. Nie riskiert man mit ihm die Peinlichkeit, zum ersten Dutzend verlorener Seelen zu gehören, die mühsam konversierend in zu grossen und zu leeren Zimmern herumstehen. Es sei wie bei einer chemischen Reaktion, meint Luciano, es brauche die genau richtige Dichte der Moleküle, damit der Prozess in Gang komme. Diesen Moment zu erwischen ist für ihn zu einer Manie geworden, doch ich verstehe ihn: Das Prickeln in der Luft, im Moment, wenn die Sache losgeht, ist fast physisch spürbar; wenn das Gemeinschaftswesen Mensch sich im Pfuhl seiner Artgenossen zu suhlen beginnt, sich öffnet mit allen Sinnesorganen. Das einzig wirkliche Abenteuer bleibt eben doch die Begegnung mit einem anderen Menschen, da kommen auch gewaltige Berggipfel und die schönsten Sonnenuntergänge nicht dagegen an. Wenn man Glück hat und die entscheidende Welle erwischt, kann man den ganzen Abend surfen auf dem Schwall von Geselligkeit, sein Brett immer wieder heraufziehen, den Blick Richtung Horizont und es einfach darauf ankommen lassen, wohin einen die Strömung trägt.
Als ich das Boot sehe, bin ich enttäuscht. Vor der Riva dei Sette Martiri, in der Nähe der Biennale, liegt ein langes flaches Schiff, wie es für Kreuzfahrten auf Flüssen verwendet wird. Mit solchen Booten tuckern sonst Rentner über den Rhein oder die Mosel. Wir schlurfen die Brücke hinauf. Oben steht ein in lächerliches Kapitänsweiss gekleideter Türsteher und streckt uns seine haarigen Hände entgegen, er sieht aus wie Spencer Tracy im Film «Arzt und Dämon».
Fünfzig Euro Eintritt will er, dafür seien aber auch die Getränke gratis.
Unseren Vorschlag, erst mal einen Blick hinein zu werfen, lehnt er ab. Luciano zahlt, Mister Hyde lässt uns durch, und wir stehen in einem Vorraum, in welchem dichtes Gedränge herrscht. Die Stimmung ist gut, die Leute sind aufgekratzt, meine Bedenken schwinden.
Links und rechts befinden sich mächtige Säle, aus denen Techno-Musik dröhnt. Wir entscheiden uns für den Raum zur Linken, dort finden die Aufführungen der Künstler statt. In der Mitte des Raumes stehen mehrere Leute vom Sicherheitsdienst; sie versuchen verzweifelt die Tanzfläche frei zu halten, indem sie die Leute an die Bar oder an die Tische an den Seiten dirigieren.
Zunächst wollen wir uns einen Drink ergattern, kein einfaches Unterfangen, denn am Tresen stehen die Gäste in mehreren Reihen. Luciano kämpft sich durch und bestellt zwei Flaschen Champagner und zehn Gläser. Ich denke, er hat sich etwas viel vorgenommen, aber ich täusche mich, denn eine Gruppe Engländerinnen, ermüdet vom Anstehen, ist dankbar für die Gläser. Als Gegenleistung lassen sie uns an ihrem Tisch sitzen. Eine gute Sache, denn von hier aus haben wir beste Sicht auf die Tanzfläche.
Manuel, der Hotelbesitzer, hat uns von den Auftritten auf diesem Boot erzählt – Laien aus allen möglichen Ländern haben einen Freipass, sich zu inszenieren, oft zu blamieren, manche Sachen seien toll, manche fürchterlich schlecht.
Eine Balletttänzerin aus Holland versucht ihr Glück. Das spindeldürre Wesen passt nicht so recht zur Opulenz von Richard Wagner, mit dessen Ouvertüren sie ihren Tanz unterlegt. Die Töne aus den Lautsprechern werden zudem sofort erschlagen von den Technobeats aus dem Saal gegenüber – ein musikalisches Kräftemessen, das nicht zugunsten des Klassikers ausgeht. Die Tänzerin leidet mit seltsamen Verrenkungen, Bewegungen wie von kranken Kühen, im Rhythmus des Rinderwahns, Bovine Spongiforme Enzephalopathie.
Mehr Stimmung kommt auf, als ein paar Drag Queens aus Milano die Tanzfläche betreten. Was heisst betreten, regelrecht hereingeweht kommen sie, begleitet von Gloria Gaynors Song «We will survive». Die Kerle sind alle mindestens zwei Meter gross, sie tanzen wild umher, das Publikum kommt in Stimmung, wir klatschen mit im Takt der Musik, die Jungs freut es und sie setzen noch einen drauf: Einen Cancan mit wehenden Röcken legen sie aufs Parkett, bei jedem Schwung ihre haarigen Beine zeigend.
Das Publikum tobt und ich nutze die Gelegenheit, um aufs Klo zu gehen. Die Toilette ist im Zwischenraum beim Eingang, der Türsteher hat inzwischen alle Hände voll zu tun, die Leute drängeln auf der Brücke. «Das Boot ist voll», schreit er in die Menge hinaus, «wenn ich mehr Leute hereinlasse, sinkt es.»
Das ist natürlich Unsinn, denn das Schiff liegt fest verankert am Ufer. Dennoch begrüsse ich seine strikte Haltung – die Luft wird jetzt schon knapp, gesättigt vom Schweiss der Tanzenden und vom Rauch unzähliger Zigaretten.
Ich beschliesse, etwas frische Luft zu schnappen und nehme die Treppe, die aufs Oberdeck führt. Ich staune, wie ruhig es hier oben ist, nur wenige Gäste haben sich hierhin verirrt, obwohl der Ausblick phantastisch ist. Vor mir liegt die Lagune, rechts im Hintergrund ragt stolz die Kirche San Giorgio Maggiore in den Himmel. Hinter mir liegt das Quartier Castello. Nicht prächtige Paläste wie am Canal Grande gibt es hier, sondern normale Wohnhäuser, wie man sie überall in Norditalien findet, mit gelber oder ockerfarbener Fassade und grünen Fensterläden.
Unzählige Fernsehantennen auf dem Dach wetteifern um die Signale der Fernsehstationen. Wer mag die Gunst der Bewohner wohl gerade gewinnen, Rai uno mit den Nachrichten, Rai due mit den Fussballpartien, oder, zu dieser späten Abendstunde, einer der Regionalsender mit den ewigen Telefonsex-Spots?
Vor den Häusern stehen Kinderfahrräder. Im Gegensatz zu den engen Gassen um den Markusplatz finden sich hier in der Nähe der Biennale breite Alleen und grosszügige Parkanlagen. Die Mütter gehen tagsüber gerne mit ihren Kindern zu den Spielplätzen hinter dem Viale Trieste um Klatsch auszutauschen oder eine Tasse Kaffee aus der Thermosflasche zu trinken, die Halbwüchsigen tauschen dort ihre Fussballbildchen.
Ich zünde mir eine Zigarette an, die erste heute. Ich rauche kaum noch, seit ich regelmässig laufe, meine fünf bis zehn Kilometer täglich, zuhause entlang dem See.
Die Riva dei Sette Martiri ist fast menschenleer. Nur vor der Brücke unseres Schiffes staut sich immer noch eine Traube Menschen. Richtung Biennale ist die Promenade ausgestorben. Auf der anderen Seite, vor dem Dogenpalast, schlendern ein paar Leute, ich sehe sie ganz klein. Einer hat den Regenschirm aufgespannt, obwohl der Himmel wolkenlos ist. Das Grüppchen kommt langsam näher.
Es ist kein Regenschirm.
Sie ist es.
Mit ihrem Hut.
Ich kneife die Augen zusammen. Ja, sie muss es sein, die Frau von heute im Florian. Sie schlendert mit einer Gruppe von Leuten zum Hotel Danieli.
Ich drücke die Zigarette aus und hetzte die Treppe hinunter. Auf der Landungsbrücke wird mein Elan gebremst, ich muss mich mühsam durch die anstehenden Partygäste zwängen. Endlich unten angekommen, realisiere ich, dass mein Mantel noch im Schiff ist. Es ist kalt nur in Hemd und Jackett. Doch ich will nicht wieder zurück, ich werde ja schnell laufen, meine Muskeln werden sicherlich etwas Wärme produzieren.
Während ich über das Pflaster eile, verliere ich sie aus dem Blick. Ich hoffe, oben auf der nächsten Brücke freiere Sicht zu haben und sie zu erspähen, und in der Tat, ich habe Glück, ich sehe sie in der Ferne beim Eingang des Hotels, sie nimmt soeben den Hut ab, offensichtlich kommt sie mit dem Ungetüm nicht durch die Drehtür.
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