„Ja, auf jeden Fall.“ Sie ging mit ihm in den dunklen Flur und folgte ihm in eine riesige Küche, die anscheinend auch als Aufenthaltsraum diente. Der Geruch von Alkohol, Schweiß und kalter Asche schlug ihr entgegen. Ein älterer fast kahlköpfiger Mann saß mit einer Tasse vor sich am Tisch, er grinste ihr zahnlos entgegen. Neben ihm ein Mann, dessen Gesicht völlig vernarbt war, ein Auge fehlte. Durch das dünne Haar konnte sie seine verschorfte Kopfhaut sehen. Ein jüngerer Mann mit fettigem, langem Haar, bunten Tätowierungen auf den nackten Armen und einer beträchtlichen Sammlung von Ringen an seinen Fingern, die aussahen, als stammten sie allesamt aus einem Kaugummiautomaten, löffelte einen undefinierbaren Brei aus einer Schale. Er sah nicht einmal auf. Neben ihm ein Junge von vielleicht dreizehn Jahren, das Gesicht bleich, die Augen dunkel gerändert. Er zitterte am ganzen Körper und starrte Beverly mit seinen glasigen Augen an. Seine Lippen waren aufgesprungen und geschwollen. Er sah aus als hätte ihm jemand ins Gesicht geschlagen. Mit Sicherheit ein Strichjunge. Vermutlich war er nur für kurze Zeit hier untergekrochen. Sobald er den Entzug spürte, würde er wieder auf der Straße stehen und auf einen Freier warten.
„Bleib ruhig, Phil“, der Bodybuilder klopfte ihm auf die Schulter, „sie ist nicht deinetwegen hier.“ Er reichte das Foto herum, doch einer nach dem anderen schüttelte den Kopf.
„Ist sonst noch jemand hier?“
„Ja, aber wenn Sie mich fragen, es lohnt nicht. Tom liegt total besoffen neben seiner Matratze. Der würde nicht einmal mitkriegen, wenn Sie ihn in die Themse schmeißen, und Cal reihert sich seit heute Nacht die Gedärme aus dem Hals. Glaub kaum, dass er ansprechbar ist.“
Beverly verzichtete darauf, die letzten zwei Männer zu befragen. Sie stieg wieder ins Auto, setzte einen Vermerk hinter die Adresse und fuhr weiter.
Die Vormittagsstunden verstrichen ergebnislos. Unzählige Adressen, noch mehr Kopfschütteln. Beverly hielt an einem Fischimbiss, kaufte sich ein Brötchen und setzte sich in den Wagen. Wie erging es wohl den anderen? Sie blickte auf ihre Liste, es war gewiss, dass sie das Pensum heute nicht schaffen würde. Um sieben wollten sie sich wieder im Yard treffen, sie hatte noch gut fünf Stunden. Sie trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und fuhr weiter. Immer die gleiche Frage. „Kennen Sie diesen Mann? Haben Sie ihn schon einmal irgendwo gesehen?“
Und immer wieder die gleichen Antworten.
„Nein.“
„Keine Ahnung.“
„Nein, nie. Was hat er denn angestellt?“
„Kenn ich nicht. Zeigen Sie noch mal. Nein, nie gesehen.“
„Keinen blassen Schimmer.“
„Ich verpfeife keine Leute. Aber den kenn ich sowieso nicht.“
„Glaub nicht. Nein.“
„Was wollen Sie denn von dem? Kenn ich nicht, den Typen.“
„Nein, interessiert mich auch nicht.“
„Den? Nä, echt nich.“
Allmählich zogen dunkle Wolken auf und begannen sich zu verdichten. Sie verschluckten das restliche Tageslicht. Die letzte Adresse, die sie heute aufsuchen würde, war der Keller eines riesigen Wohnblocks. Er lag in einer tristen Wohngegend. Die Straßen waren bis auf ein paar Kinder, die im Schein der Straßenlampen hinter einem dreckigen Lederball herliefen, menschenleer. Beverly parkte in einem Hinterhof, neben einem großen Garagenkomplex und ging durch eine dunkle Unterführung zur Stirnseite der Häuserblocks. Ein locker wirkender junger Mann öffnete ihr. Er stellte sich als Roger Clark vor und ließ sie herein. Er betreute zusammen mit zwei anderen einen Unterschlupf für Jugendliche und junge Erwachsene. Sie gingen die Stufen hinunter, die Bässe lauter Rockmusik hallten dumpf durch das Treppenhaus. In einem großen Kellerraum standen etliche zerschlissene Sessel um einen alten Billardtisch. Mindestens fünfzehn Leute hatten es sich hier bequem gemacht. Zwei blonde Männer, Beverly schätzte sie auf höchstens zwanzig, standen mit Queues in den Händen, und einer von ihnen visierte die Lage der Kugeln. In der hinteren Ecke saßen vier Jugendliche, sicherlich keiner älter als siebzehn, in zerschlissenen Jeans und rauchten. Als sie Beverly sahen, steckten sie die Köpfe zusammen, sie tuschelten. Zwei von ihnen trugen Baseballkappen, einer hatte sich ein Tuch um den Kopf gebunden, der vierte hatte kurz geschorene schwarze Haare. Sie begannen zu lachen, dann sah einer zu ihr herüber. Die Musik war so laut, dass Beverly kein Wort verstehen konnte. Clark nahm das Foto, er hielt es einem nach dem anderen unter die Nase. Beverly stand im Türrahmen, sie konnte sehen, wie sie den Kopf schüttelten. Clark diskutierte mit den Jungs aus der Ecke, aber auch die Vier schüttelten den Kopf. Dann erhoben sie sich gemeinsam, wie auf Kommando, und kamen auf sie zu. Einer nach dem anderen verließ den Keller und jeder von ihnen rempelte sie demonstrativ im Vorbeigehen an. Der dunkelhaarige sah ihr dabei in die Augen und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
Das Foto erreichte den Billardtisch. Die Männer warfen einen Blick auf das Bild, dann wandten sie sich wieder dem Spiel zu. Nichts. Roger Clark begleitete Beverly wieder hinauf. „Die Jungs hier sind nicht sehr kooperativ. Sie stehen der Polizei grundsätzlich feindselig gegenüber. Fast alle sind regelmäßig straffällig. Einige von ihnen waren bereits im Knast. Sie werden entlassen, wissen nicht, wohin, kriechen hier wieder unter und bauen den nächsten Mist. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen konnte.“
„Ist schon in Ordnung, ... danke.“ Beverly verließ den Häuserblock und ging zurück zum Wagen. Sie war gerade in der Mitte der Unterführung, die sie wie ein enger Tunnel umschloss, als sich die Schattenrisse zweier Männer am Ausgang aufstellten. Sie verlangsamte ihre Schritte, blieb stehen und kniff die Augen zusammen. Sie erkannte die Jungs mit den Baseballmützen, sie hörte Schritte hinter sich. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter. Da standen die anderen beiden.
„Denkt nicht mal dran“, brachte sie laut und mit fester Stimme hervor. Nichts geschah. Sie warteten darauf, dass ihre Beute den ersten Schritt tat. Sie waren keine Kinder mehr. Jugendliche ihres Kalibers waren genauso brutal wie erwachsene Männer, das wusste Beverly. Das einzige, was diesen Kerlen Respekt eingeflößt hätte, wäre ihre Waffe gewesen, doch die lag im Wagen.
Sie rührte sich nicht. Sollten diese Jungs den ersten Schritt tun.
Es waren nur Augenblicke, Augenblicke, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen. Dann gab einer das Kommando. „Packt euch die Schlampe!“ Sie gingen von beiden Seiten auf sie zu, gleichzeitig setzte Beverly sich in Bewegung, ging den beiden, die vom Parkplatz her kamen, entgegen. Ihr Herz raste, und sie entschied sich für den größeren. Ich schwör dir, es wird weh tun. Er war jetzt nah genug. Im Bruchteil einer Sekunde sprang Beverly ihm entgegen und trat ihm so gezielt gegen die Schulter, dass es ihn rücklings von den Beinen holte. Mit einem dumpfen Aufschlag landete er auf dem Rücken. Sie sprintete los. Hinter sich hörte sie die Bande fluchen. Sie würden schneller sein. Während sie rannte, zog sie den Schlüssel aus der Jacke. Sie wusste, ihr Vorsprung würde nicht reichen. Sie würde es nicht schaffen, weil sie den Wagen aufschließen musste.
Der Puls schlug ihr bis in den Hals, als sie das Auto erreichte. Sie schaffte es nicht einmal mehr, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Sie wurde von hinten gepackt. Einer erstickte ihren Schrei mit seiner Hand. Sie begann zu treten, um sich wenigstens die anderen vom Hals zu halten, doch sie hatte keine Chance. Der Schwarzhaarige schleuderte sie zu Boden. Der Stoff ihrer Jacke riss dabei, sie schlug hart mit dem Kopf auf. Der Schmerz machte sie benommen, einen Moment lang wurde ihr schwarz vor Augen, aber dann versuchte sie aufzustehen. Einer drückte ihre Schultern zu Boden, und sie begann wieder zu treten. Sie hatten anscheinend keine Waffen. Sie würde sich wehren, bis es nicht mehr ging.
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