„Hat’s Ihnen heute die Sprache verschlagen, Fleming?“ Sie schlüpfte in ihre Schuhe und warf sich ihre Jacke über. „Wir können.“ Sie ging zur Tür, aber er gab den Durchgang nicht frei.
„Es hat mir in der Tat die Sprache verschlagen“, sagte er leise. Dann zog er ihr die Spange wieder aus dem Haar. Beverly spürte, wie ihr das Haar hinabfiel, sie wollte protestieren. Er zog sie an sich. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er legte ihr einen Finger auf die Lippen, streichelte sie sanft. Unwillkürlich schloss sie die Augen, und er küsste sie. Es war eine vorsichtige Berührung, forschend, fragend; sie erwiderte seinen Kuss. Sie presste sich an ihn. Seine Fingerspitzen wanderten ihren Nacken hinauf und verschwanden in ihrem Haar. Sie konnte seinen Herzschlag spüren, seine Berührung machte sie trunken. Das lange Alleinsein und die unerfüllte Leidenschaft schienen ihre Empfindsamkeit vervielfacht zu haben. Sie wusste, dass sie der Versuchung erliegen würde, wenn er es jetzt darauf anlegte.
Er legte es nicht darauf an. Er löste sich von ihr und musterte sie eine kurze Weile, während sie darum kämpfte, ihre Selbstbeherrschung wiederzufinden. Die Zufriedenheit, die in seinen Zügen lag, machte sie wütend. Er hatte ihr einfach so zwischen Tür und Angel bewiesen, dass er sie jederzeit rumkriegen konnte, die ach so abgeklärte Kripofrau, die über den Dingen stand.
Er schaute auf die Uhr. „Ich möchte nicht zu spät kommen“; ohne ein weiteres Wort ging er die Treppe hinunter. Beverly blieben sämtliche Kommentare im Hals stecken. Sie schlug die Tür hinter sich zu und folgte ihm mit puddingweichen Knien nach unten. Sie war so wütend über sich selbst, dass ihr schon eine Möglichkeit einfiel, sich selbst in den Hintern zu treten. Zu allem Überfluss hielt er ihr die Autotür auf.
„Das ist das letzte Mal, dass ich in diesen Wagen steige“, giftete sie ihn an, und er lächelte. Wie konnte das passieren? Evans, du hast dich nicht im Griff.
Während ihrer gemeinsamen Fahrt blickte sie demonstrativ aus dem Seitenfenster und schwieg. Sie spürte, dass er hin und wieder zu ihr herübersah. Der Weg zum Yard erschien ihr länger als sonst, er war schier unendlich. Sie versuchte ihre Wut in Gedanken zu fassen, versuchte sich darüber klar zu werden, was es war, das sie so traf.
Verdammt, Evans, du hast dich überhaupt nicht geändert. Du fällst noch immer auf diese Typen rein, auf ihre unwiderstehliche Masche.
Sie hielten an einer roten Ampel, sie spürte seinen Blick.
„Gehen Sie heute Abend mit mir essen?“
„Gehen Sie doch mit Henderson essen“, antwortete Beverly gereizt. „Sie würde sich sicher freuen.“
„Was soll denn das jetzt heißen? Sie haben mich ja schließlich am Dienstag versetzt.“
„Seien Sie doch nicht so empfindlich Fleming. Ich war dienstlich unterwegs.“
„Genau das ist Ihr Problem, Evans, Sie sind immer dienstlich unterwegs. Sie haben kein Privatleben. Sie haben Angst vorm Dienstschluss, weil danach nichts mehr kommt.“
Zack, Treffer. „Und ausgerechnet Sie können das beurteilen. Verschonen Sie mich mit ihrem Psychokram.“
Fleming steuerte den Roadster in die Parklücke, und Beverly stieg aus.
Auch das noch! Miller. „Na, heiße Nacht gehabt?“ Er zog den Mund in die Breite während seine Blicke an ihnen klebten.
„Halts Maul, Miller.“ Ohne sich noch einmal nach einem der beiden Männer umzusehen, ging sie erhobenen Hauptes zum Aufzug.
Die Luft in Whitefields Büro schimmerte bläulich vom Zigarilloqualm, den Miller unermüdlich in die Luft blies. Er saß breitbeinig auf seinem Stuhl, Ungeduld spiegelte sich in seinem Gesicht. Beverly konnte riechen, dass er wie immer getrunken hatte, ein Hauch von Pfefferminz mischte sich mit dem Gestank hochprozentigen Alkohols. Sie setzte sich, dann heftete Sands eine Karte an die Pinwand. „Die eingekreisten Gebiete werden von den Revieren vor Ort übernommen“, begann er. „Außerdem übernehmen sie in den grün markierten Regionen einen Teil der Arbeit. Ich habe die restlichen Adressen in diesen Bereichen auf vier Routen aufgeteilt, die wir selbst übernehmen werden. Bill wird Camden, Islington und Hackney abfahren; Miller, Sie übernehmen Greenwich, und Beverly, du hast Southwark und Lambeth auf deiner Liste. Henderson und ich werden uns um Croydon und Sutton kümmern.“ Sands sah in die Runde, nahm die Adressenlisten, an die jeweils ein Foto von St. Williams geklammert war, von Whitefields Schreibtisch und verteilte sie. Whitefield ließ seine Blicke über die Mitarbeiter schweifen, er schwieg einen Moment. „Gibt’s sonst noch was?“, warf er dann ein.
Sands drehte sich zu ihm um. „Helen Fuller hat letzte Woche eine recht vage Täterbeschreibung abgegeben“, warf er ein, „aber vielleicht würde sie St. Williams auf dem Foto wiedererkennen.“ Er blickte zu Beverly hinüber. „Würdest du das übernehmen?“
„Ja, ich kümmere mich darum.“ Whitefield nickte, sie wussten, dass die Besprechung damit beendet war.
Als sie auf den Korridor traten, herrschte Aufbruchstimmung. Während alle bereits den Yard verließen, ging Beverly ins Büro und rief Helen Fuller an. Es nahm niemand ab, sie schien nicht zu Hause zu sein. Also holte Beverly den Schlüssel für den Dienstwagen und brach auf. Es war diesig. Sie schaltete das Radio ein und stand gleich in einer langen Autoschlange. Sie warf einen Blick auf die Passanten, dann rollte sie ein paar Meter und wurde wieder ausgebremst. Der Verkehr schob sich allmählich vorwärts. Beverly verließ den inneren Stadtkern über die Lambeth Bridge und folgte der Lambeth Road bis zum großen Kreisverkehr, der völlig verstopft war. Zäh rollte der Verkehr Runde um Runde, Beverly steuerte den Wagen in die Borough Road. Sie bog in die Southwark Bridge Road ein und folgte ihr in nördlicher Richtung. Dann verließ sie die breite Straße, tauchte in das Gewirr von Seitenstraßen ab. Sie seufzte. Er hatte es doch tatsächlich geschafft, dieser aalglatte Psychologe. Er ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie ärgerte sich maßlos über sich selbst, über ihre Unbeherrschtheit, und das Schlimmste war, dass sie sich insgeheim wünschte, er würde es wieder tun. Dennoch, sie würde es ihm mit gleicher Münze heimzahlen, sie würde es tun, um ihren verletzten Stolz wieder ins Lot zu bringen. Dabei ging es nicht einmal um ihn. Es ging um alte Wunden.
Sands hatte die Unterlagen gründlich vorbereitet. Er hatte die Adressen entlang der günstigsten Fahrtroute der Reihe nach aufgelistet. Beverly bog in eine Seitenstraße, in der alte Häuser standen, und hielt bei Nummer vierunddreißig. Der graue mehrstöckige Putzbau sah alles andere als einladend aus. Er war von einer verkommenen Wiese umgeben, auf der Sperrmüll lag. Die Wände des Hauses hätten mehr als einen neuen Anstrich gebraucht. Beverly klingelte und zog ihren Ausweis aus der Jacke. Ein junger Mann öffnete die Tür. Sein breites Gesicht war von dichten schwarzen Locken umkränzt. Er mochte etwa Mitte dreißig sein. Er trug verwaschene Jeans und ein blaues Sweatshirt, auf dem LIBERTY stand. Zwei kleine Ringe waren durch sein linkes Ohrläppchen gebohrt, seine Augen verschwanden beinahe unter den buschigen Augenbrauen. Er sah aus wie ein Bodybuilder, füllte fast den ganzen Türrahmen und schaute auf Beverly hinab.
„Scotland Yard. Ich bin Sergeant Evans. Bin ich hier richtig bei der Street-Organisation?“
„Sind Sie, gibt’s Ärger?“
„Nein, keine Panik. ... Könnten Sie sich dieses Foto ansehen. Kennen Sie den Mann?“
Er warf einen neugierigen Blick auf das Bild und schüttelte den Kopf. „Nie gesehen.“
„Wie viele Leute betreuen Sie hier?“
„Die meisten pennen hier nur und machen sich morgens wieder vom Acker. Im Moment sind sechs Leute da. Soll ich denen das Foto zeigen?“
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