Der gute Whitefield hat mir also wohlmeinend den Psycho auf die Pelle geschickt. Na, prima! „Um diese Zeit?“
„Er hat mich nicht eher erreichen können.“
„Sie waren wohl wieder mit Henderson essen. ... Wissen Sie was, Fleming. Ich brauche keinen Psychologen.“
„Ich bin auch nicht als Psychologe hier.“
„Das ist ja noch schlimmer.“ Sie schob ihm die Tür vor der Nase zu. Er klingelte ein zweites Mal, aber sie machte nicht auf. Sie schaltete den Fernseher ab, trank einen Schluck Wasser und ging zu Bett. Sie ließ das Licht im Flur brennen, es warf einen matten Schein ins Zimmer. Unter der Decke zusammengekauert, starrte sie auf den Schatten der Zimmerpalme, bis sie einschlief.
Beverly hatte mit mäßigem Erfolg die Blessuren vom Vortag mit Make-up überdeckt, sich eine dunkle Sonnenbrille auf die Nase geschoben und eine Tablette gegen die Kopfschmerzen eingeworfen. Sie wartete draußen an der Straße, Sands war auf die Minute pünktlich. Sie ließ sich auf den Beifahrersitz sacken.
„Wie hast du die Nacht überstanden?“, wollte er wissen, und sie lächelte.
„Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt. Es ging ganz gut.“ Sie schaute nach vorn in den dichten Verkehr, ihr Auto kam ihr in den Sinn. „Kannst du mich zur Werkstatt bringen? Ich muss meinen Wagen abholen.“
„Kann ich.“
Sie lauschte der Rockballade, die im Radio spielte, der gestrige Abend ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie fragte sich, wie viele Frauen vor ihr in die Fänge dieser Straßengang geraten waren. Das, was jetzt gegen diese Jungs vorlag, würde reichen, um sie für eine Weile aus dem Verkehr zu ziehen. Körperverletzung und versuchte Vergewaltigung, und das gegen eine Mitarbeiterin der Kripo. Außerdem hatte man bei zweien von ihnen Designerdrogen gefunden, mit denen sie eine ganze Schule hätten vergiften können.
„Ich habe bei weitem nicht alle Adressen geschafft, die auf meiner Liste stehen. Seid ihr fertig geworden?“
„Keiner von uns“, antwortete Sands. „Ich denke, dass noch einmal ein ganzer Tag dabei draufgehen wird. Whitefield war nicht gerade angetan, dass die Aktion bislang ergebnislos verlaufen ist.“
„Er bekommt wohl wieder Druck von oben. O’Brian sollte sich mit seiner ständigen Kritik zurückhalten. Es sitzt schließlich keiner untätig in der Gegend rum. Außer O’Brian selbst.“
„Das solltest du besser nicht laut sagen. Er wirft momentan verstärkt ein Auge auf dich, rein dienstlich natürlich.“
Sie schaute Sands überrascht an, war sich aber keiner Schuld bewusst. Sie hatte bislang immer korrekt und gewissenhaft gearbeitet und nie gemault, wenn Überstunden anstanden. Sie hatte, was ihre Dienstzeit beim Yard anging, ein völlig reines Gewissen, wenn man von ihrer Affäre mit Edward absah. Diese Geschichte gehörte aber eindeutig in ihr Privatleben und der Vergangenheit an. Also, was wollte O’Brian von ihr? „Wieso denn das?“
Er lächelte. „Weil ich der Meinung bin, dass wir dein Talent verschwenden. Ich habe O’Brian nahe gelegt, darüber nachzudenken. Anfang nächsten Jahres verlässt Tom Callagher den Yard. Ich habe dich für seinen Posten vorgeschlagen.“
„Als Inspektor? ... Das ist nicht dein Ernst! Ich hab noch nicht einmal vier Dienstjahre beim Yard.“
„Und steckst trotzdem einen Großteil der Kollegen locker in die Tasche.“
Beverly fühlte sich von diesem Gedanken völlig überrumpelt. Der Gedanke daran, welche Möglichkeiten sich ihr dadurch eröffneten, war verlockend. Aber die Vorstellung, sie würde dann nicht mehr mit Sands zusammenarbeiten, war ernüchternd. „Wie viele Bewerber gibt es noch?“
„Drei und Miller.“
Beverly lachte. „Ich wusste gar nicht, dass du so gemein sein kannst.“
„Sieh es einfach sachlich. Wenn Miller sein Alkoholproblem nicht endlich in den Griff bekommt, hat er ohnehin keine Chance.“
Sie seufzte. Sie musste das erst einmal verdauen. Locker bleiben, Evans. Mach dich nicht verrückt. Es bleibt eh alles beim Alten. Mit deinem Engelsgesicht hast du genauso gute Chancen, wie Miller mit seiner Whiskyfahne. Während sie sich mit diesem Gedanken beruhigte, erreichten sie die Werkstatt.
Whitefield war heute wieder besonders übellaunig, er äußerte sich nochmals missbilligend darüber, dass Beverly zum Dienst erschienen war. Jetzt war ihr auch klar, dass er Fleming nicht nur angerufen hatte, weil er sich gesorgt hatte. Vielmehr hatte er wohl gehofft, Fleming könnte sie davon überzeugen, sich doch noch ein paar Tage Erholung zu gönnen. Auch sonst war er unzufrieden. Mit hochrotem Kopf ließ er sich darüber aus, dass sie nicht weiterkamen. Es interessierte ihn auch nicht, dass Sands das ganz anders sah. Whitefield hatte nicht vor, einen weiteren Tag mit der Suche in den Obdachlosenunterkünften zu verschwenden. Er wollte sie alle bereits um vierzehn Uhr wiedersehen, mit komplett abgehakter Liste. Die Stimmung war entsprechend, als sie gemeinsam aufbrachen und sich dann in alle Himmelsrichtungen zerstreuten.
Beverly fuhr zunächst in die Wohngegend, in der ihre Arbeit am Vortag ein unerwartetes Ende gefunden hatte. Als sie den großen Garagenkomplex erreichte, hielt sie an und stieg aus. Dort, wo sie gestern geparkt hatte, waren noch Reste ihres Blutes auf dem Asphalt zu sehen. Sie atmete tief durch und ging auf die Unterführung zu. Die Geräusche der Straße drangen jetzt nur noch entfernt in ihr Bewusstsein. Sie blieb stehen und blickte in die lange düstere Röhre. Du musst es jetzt tun. Sie atmete hörbar aus. Mit einem leichten Anfall von Schwindel betrat sie den Tunnel und durchschritt ihn betont langsam. Nur der leise Hall ihrer eigenen Schritte war zu hören. Sie erreichte das Ende, blickte kurz in den bewölkten Himmel und trat den Rückweg an. Sie erreichte den Parkplatz und spürte sofort, wie erleichtert sie war. Fertig. Da gehst du nie wieder durch! Du gehst nie wieder durch diesen verdammten Tunnel! Gerade weil dieser Gedanke in ihr keimte, tat sie es noch einmal. Sie durchquerte den Tunnel ein zweites Mal. Als sie wieder ins Auto stieg wusste sie, dass dies nur der erste, ein kleiner Schritt gewesen war, um ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden.
Bis zum Mittag hatte sie vierzehn Adressen abgearbeitet. Es ärgerte sie maßlos, dass die meiste Zeit vom dichten Straßenverkehr geschluckt wurde. Wenn sie das Mittagessen ausfallen ließ, würde sie die letzten sechs schaffen, vorausgesetzt, sie geriet in keinen Verkehrsstau. Die Wirkung der Schmerztablette ließ allmählich nach, und sie spülte eine zweite mit Mineralwasser hinunter. Sie warf einen Blick in die Straßenkarte Sie dachte an Sands, der solche Hilfestellungen selten benötigte. Es gab kaum eine Straße in London, die er nicht kannte. Heimvorteil. Er war hier geboren.
Das Haus, vor dem Beverly hielt, wirkte wie ausgestorben. Der Zustand war vergleichbar mit dem von Maggie Hunters Haus. Ein Schild davor kündigte an, dass es demnächst abgerissen und durch ein modernes Appartementhaus ersetzt werden sollte. Das Gelände war mit einem hohen Gitter abgesperrt. Hier befand sich keine Wohlfahrtsorganisation mehr. Sie strich die Adresse und fuhr weiter. Als sie an diesem Tag das letzte Mal ihren Ausweis und das Foto aus der Tasche zog, zeigte ihre Uhr, dass sie es nicht im vorgegebenen Zeitlimit schaffen würde. Es war schon nach vierzehn Uhr und sie würde mindestens zwanzig Minuten für den Rückweg brauchen. Auch hier kannte niemand Timothy St. Williams. Wenn alle anderen genauso erfolglos gewesen waren wie sie, würde Whitefields Stimmung unter den Nullpunkt sinken. Das war für das Arbeitsklima nicht gerade förderlich. Sie seufzte. Die Kopfschmerzen wurden stärker, aber sie wollte nicht schon wieder eine Tablette nehmen. Rote Ampeln. Stau am Kreisel. Grüne Ampeln, an denen man in den Kolonnen erst vorwärts kam, wenn das Licht schon wieder auf rot schaltete. Hupen. Quietschende Bremsen. Sie war froh, als sie den Yard endlich erreichte.
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