Sie stellte es sich nicht vor und reichte ihm lieber das Foto. „Kannst du den Mann da rausholen und das Ganze vergrößern?“
„Klar, kein Problem. Kommt ihr weiter mit dem Fall?“
„Es sieht ganz danach aus, aber es kommt noch einiges auf uns zu. Kannst du mir Abzüge machen?“
„Wie viele brauchst du?“
„Vierzig bestimmt. Schaffst du das bis morgen?“
„Auf jeden Fall. Ich schick sie dann zu Whitefield rauf. Und grüß Stanton von mir, er soll sich mal wieder sehen lassen, der Halunke.“
Sie verließ das Labor, wobei sie einen kurzen Blick zu Turner zurückwarf. Er sah ihr mit einem breiten Grinsen hinterher. Sie lief die Korridore entlang und ließ ihren Blick im Vorbeigehen aus den schmalen Fenstern schweifen. Es war dämmrig, sie spürte plötzlich wie müde und erschlagen sie war. Sie ging durch die Zwischentür zu ihrer Abteilung. Dort traf sie Henderson, die anscheinend gerade erst zurückgekommen war.
„Hey, Bev, hab schon gehört, dass ihr zurück seid. Whitefield sagte, ihr hättet ein Foto von St. Williams.“
„So ist es.“
„Und, wie sieht er aus?“
„Du kannst es dir morgen ansehen. Nicht gerade wie ein typischer Täter.“
„Wo habt ihr es gefunden?“
„In Maggie Hunters Haus auf dem Dachboden.“
„Aha.“ Patricia seufzte. Sie tat es so offensichtlich, dass Beverly sofort Bescheid wusste. Irgendetwas lag ihrer neuen Kollegin auf der Seele. Sie waren allein im Flur, es herrschte eine sonderbare, vom leisen Summen einer defekten Neonröhre begleitete Stille. „Wo ist Miller?“
Henderson atmete hörbar ein. „Er hat mich hier raus gelassen und ist gleich weitergefahren.“ Sie schaute auf ihre Schuhe, drehte den rechten Fuß hin und her. Beverly spürte die Anspannung der jungen Kollegin und ihr schwante, dass etwas zwischen ihr und Miller geschehen sein musste.
„Hast du dich mit Miller angelegt?“ Henderson schwieg, sie wich Evans prüfendem Blick aus.
„Wenn ihr im Dienst aneinandergeratet, dann ist das keine Privatsache, Pat. Was ist los?“
Henderson blickte zornig auf. „Wieso bist du eigentlich mit Sands nach Coventry gefahren? Ich sollte doch mit ihm zusammenarbeiten.“
„Du hast Recht“, lenkte Beverly ein. „Grundsätzlich sollst du das auch. Coventry war nur eine Ausnahme. Und jetzt raus mit der Sprache: Was war mit Miller?“ Eigentlich kann ich’s mir denken.
Die Wut war aus Pats Gesicht gewichen und hatte einem bekümmerten Ausdruck Platz gemacht. „Ich hab ihm eine geknallt.“
Beverly hatte Mühe, ihr spontan aufkommendes Lächeln zurückzuhalten. Dann hat er’s auch verdient.
„Er ist aufdringlich geworden, da ist es halt passiert. Und was jetzt? Was ist, wenn er mich anschwärzt?“
„Das wird er nicht tun!“
„Glaubst du das wirklich, Bev?“
„Ja. Dann käme auch sein mieses Verhalten auf den Präsentierteller. Du solltest es Whitefield sagen. Bei unserem guten Hank kommt inzwischen einiges zusammen.“ Sie konnte Pat die Erleichterung ansehen und gönnte Hank diese Ohrfeige. Es war nicht die erste, die er von Kolleginnen im Yard bekommen hatte. Beverly konnte diese Tatsache gewissermaßen aus erster Hand bestätigen.
„Hast du heut´ noch was vor“, fragte Henderson unvermittelt.
„Ich warte auf Fleming, er hat mir angeboten, mich nach Hause zu fahren. Meine Schrottkarre muss dringend in die Werkstatt.“
„Ich finde ihn wahnsinnig sexy.“
„Da bist du nicht die einzige, Pat.“
„Wir waren gestern Abend zusammen essen.“
„Ihr ward zusammen essen“, wiederholte Beverly feststellend, beinahe tonlos. Evans, was hast du denn erwartet? Sie hatte es doch eigentlich schon vorher gewusst. Fleming war auch einer dieser Männer, die nur auf Vergnügen aus waren.
„Und, wie war er so?“, fragte sie gereizt.
„Er ist wirklich klasse. Er kann gut zuhören und er hat, was den meisten Männern fehlt, gute Manieren.“
„Ich meinte im Bett“, und sofort ärgerte sie sich maßlos über sich selbst, weil solcherlei Bemerkungen eigentlich Millers Niveau waren.
„Wir waren nur essen.“ Patricia warf ihr einen beleidigten Blick zu und verschränkte die Arme.
„Nur essen?“ Beverly fixierte sie.
„Ja. Bist du etwa neidisch?“
„Neidisch? Ich neidisch? Ich war am Montag mit ihm Essen.“
„Und? Danach?“ Henderson grinste.
Die beiden Frauen sahen sich einen Moment lang an und begannen zu lachen, aber Beverly spürte, dass es eigentlich nichts gab, worüber sie jetzt hätte lachen wollen. Vergiss diesen Mann!
Die beiden Frauen hatten gerade beschlossen ins Büro zu gehen, als Sands mit einer Kanne Kaffee den Flur entlang kam.
„Den können Sie doch unmöglich allein trinken“, feixte Henderson.
„Das habe ich auch nicht vor. Ich versuche gerade Fleming aufzupäppeln. O’Brian hatte die geistreiche Idee, ihn völlig unvorbereitet zu Dr. Morrow zu schicken; unser junger Psychologe hat den Autopsiesaal umgehend und fluchtartig verlassen.“
„Was zu erwarten war“, ergänzte Beverly. „Wir kommen mit. Patricia und ich könnten auch einen Kaffee gebrauchen.“
Sie folgten Sands in sein Büro. Fleming war kreidebleich, er wirkte, als würde er gleich vom Stuhl kippen. Sands gab ihm eine Tasse Kaffee in die Hand und lehnte sich an die Fensterbank.
„Ich weiß nicht, was sich O’Brian bei solchen Aktionen denkt“, sagte er.
Beverly seufzte. „Wir kennen ihn doch schon lange genug, wir kennen doch sein Motto: Wer nicht auf die harte Tour lernt, der lernt nichts.“
Fleming hielt sich an seiner Tasse fest und blickte hinein. Offensichtlich war es ihm peinlich, dass ihn der Anblick auf Morrows Autopsietisch beinahe von den Beinen geholt hatte.
Sands musterte ihn. „Machen Sie sich nichts draus, Fleming. Nach der ersten Leichenöffnung, bei der ich dabei war, ging’s mir auch nicht wesentlich besser.“
Beverly sah sofort die Erleichterung in Daniels Gesicht. Aus ihrem Mund hätten diese Worte nicht die gleiche Wirkung gehabt. Für Fleming war es gut zu wissen, dass ein gestandener Mann wie Sands, der schon jahrelang beim Yard arbeitete, ganz unumwunden zugab, dass es ihm nicht anders ergangen war.
Beverly war früh auf. Sie duschte, trocknete ihre Haare und zog schwarze Jeans und einen engen Rollkragenpulli an. Sie nahm die Parfümblättchen, die sie vor über einer Woche hatte besprühen lassen, und warf sie, bis auf eines, in die Mülltonne. Sie war sich ziemlich sicher, dass der Duft, der das Bad von Sheila Moreno erfüllt hatte, ’Imagine for men’ hieß. Mit einem großen Pinsel stäubte sie sich etwas losen Puder ins Gesicht und malte einen dezenten Kajalstrich an die Grenzen ihrer Augenlider.
Fleming war, während er sie gestern nach Hause gefahren hatte, äußerst wortkarg gewesen. Er hatte auch keine Anstalten gemacht, ein weiteres Mal mit ihr essen zu gehen, was Beverly nicht verwunderte, er hatte ja schließlich noch Dr. Morrows Vorführung zu verdauen. Sie wusch einen Apfel und würfelte ihn in ihren Joghurt. Während der Tee zog, räumte sie die Spülmaschine ein. Dann streifte sie durch ihre Zweizimmerwohnung, füllte die Waschmaschine und räumte die Zeitschriften von Couch und Teppich ins Regal. Prüfend blickte sie auf die Uhr. In einer Viertelstunde würde Fleming hier sein, um sie abzuholen. Sie aß ihren Joghurt und nippte an ihrem Tee.
Sie nahm gerade den letzten Schluck, als es klingelte. Er war zu früh. Er stand wie aus dem Ei gepellt vor ihrer Tür, das Haar wie immer leicht zerzaust, und auch sein sonstiger Zustand schien wieder im grünen Bereich zu liegen.
„Hallo.“
„Sie sind zu früh, Fleming. Kommen Sie rein, ich bin gleich so weit.“ Sie wandte sich ab, spürte, wie sein Blick ihr folgte. Er stand noch immer im Türrahmen. Beverly drehte sich zu ihm um. Er taxierte sie. Sie spürte die aufsteigende Nervosität. Sie nahm ihre Haare zusammen und drehte sie. Während sie den Schopf aus roten Wellen festhielt, ging sie ins Schlafzimmer, um eine Spange hineinzuklemmen. Daniel stand noch immer schweigend, fast so, als hätte ihn jemand aus einem Journal ausgeschnitten und an ihre Tür geheftet.
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