„Halt! Halt! Keinen Schritt weiter, oder ich schieße! Bleib, wo du bist! Abstand bewahren …!“
Der Mond, ein blasser Eidotter, flutschte in eine Wolke und es wurde dunkel. Als er wieder auftauchte, war die Gestalt bereits verschwunden. Ich ging mit klopfendem Herzen, unverrichteter Dinge, wieder zurück nach Hause, ohne bei der alten Mühle herumgeschnüffelt zu haben. Ich nehme mir vor, bald Huonder zu fragen, was bei der alten Mühle vor sich geht, vielleicht weiß er ja etwas.
Die Tage vergehen wie im Flug. Heute ist Mariä Himmelfahrt, der Tag von Maria Schnee, der verschollenen Patronin von Scalamain. Letzte Nacht hat es in der Höhe geschneit. Ein frischer Wind weht. Der Morgenhimmel ist eine Postkarte: tiefblau, und die Berggipfel haben einen weissen Zuckerguß.
Die Kapelle in Scalamain oben wird morgen für den Winter geschlossen. Es ist höchste Zeit, dorthin zu wandern. Es kommen heute wohl kaum mehr Wallfahrer an den einsamen Ort, wo einst die Mutter Gottes, in einen weißen Schleier gehüllt, einem Hirtenmädchen erschienen ist und das Dorf eindringlich zu Umkehr, Buße und zur Wallfahrt aufgerufen hatte. Jahre später wurde dort auf den Wunsch der Madonna eine Kapelle gebaut und ihr Bildnis aufgestellt. Seit dem Verschwinden der wundertätigen Lieben Frau vom Schnee ist die kleine, schmucklose Kirche leer geblieben. Bald wird Schnee fallen, viel Schnee.
Bei Sonnenaufgang machte ich mich auf den Weg, im Rucksack Salsiz (lokale Wurst), Bergkäse, Brot, Wein und eine Thermosflasche Tee und erreichte den Lärchenwald oberhalb des Dorfes. Ich schaute mich überall nach Felix um, fand aber keine Spur von ihm. Rote und gelbe Frühlichtstreifen leuchteten am Firmament. Zwischen dem Lärchenwald und dem Hochwald von alten Arven ist eine sehr steile, von Erlengestrüpp gesäumte Wegstrecke, wo man wenig Übersicht über das Gelände hat. Dort klopfte mein Herz von den Mühen des Aufstiegs und mein Atem ging schwer.
Das bucklige Männlein aus dem Kinderlied stellte sich mir plötzlich in den Weg. Ich hatte mich schon früher vor ihm gefürchtet. Jetzt aber sah es wirklich bedrohlich aus. Sein ungutes Gesicht zierte ein grauer Spitzbart, die Augen waren in ihren Höhlen eingesunken. Er redete leise auf mich ein und forderte einen Schluck aus meiner Weinflasche, den ich ihm versagte. Er eröffnete mir, dass ich mich nirgends verstecken kann ohne seine Hilfe, und dass ich den Löwen bei der Polizei melden muss.
„Es ist nutzlos, zur Kapelle hochzusteigen, die Madonna ist ja weg, alles Unsinn“, knurrte er. „Es wird auch kalt heute. Es kann jederzeit schneien. Wölfe machen die Gegend unsicher und bewaffnete Partisanen sind unterwegs!“
Der Gnom lachte schallend, zeigte auf mich mit seinem langen Spinnenzeigefinger, verschwand im knackenden Gehölz. Ein eisiger Wind kam auf und warf mir eine Handvoll Schnee ins Gesicht.
Die kleine Kapelle duckte einsam unter einem überhängenden Felsen. Tau lag auf dem Gras und funkelte in den Strahlen der Morgensonne wie Tausende von Diamanten in den Kelchen der runden, gezackten Blätter der Frauenmäntelchen, der Alchemilla vulgaris. Ich sammelte einen Armvoll Blumen und Gräser auf der feuchten Wiese; violette Flockenblumen, Flughafer, Zittergras, Schafgarbe und Habichtskraut, mit denen ich die leere Nische der Madonna vom Schnee schmücken wollte. Ich drückte die schwere Klinke und die Tür sprang auf! Ich drehte mich um. Der Zwerg stand bereits hinter mir. Er war mir heimlich gefolgt. Ich suchte das Taschenmesser in meiner Jackentasche. Der Gnom zog sich hämisch grinsend zurück.
Ich trat über die Schwelle ins Halbdunkel und hörte ein anhaltendes silberhelles Lachen, das in ein Kichern überging. Erstaunt blickte ich mich um, aber ich war allein. Bald hörte ich Schritte von schweren Bergschuhen und das Rasseln eines Schlüsselbunds. Mit silbern gewordenem Krauskopf trat der Flipperkönig Kollegger über die Schwelle. Er schob den Zwerg zur Seite. Beleidigt verschwand das bucklige Männlein. Aurel blieb im Gegenlicht stehen. Sein Lockenkranz leuchtete auf wie ein Heiligenschein.
„Meine Diaula ist wieder hier! Ich habe so lange auf dich gewartet!“
Ich stürzte in seine ausgebreiteten Arme und schloss die Augen. Ich wurde ruhig, und alle Ängste und Zweifel der letzten Zeit fielen von mir ab. Kolleggers Waldgeruch, der mir seit meiner Kinderzeit so lieb ist, umnebelte mich wieder.
„War die Tür offen?“, wunderte sich Aurel und fuhr fort:
„Ich nehme an, dass dir Unsere Liebe Frau geöffnet hat!“ und zeigte auf die leere Nische.
„Sie ist immer noch hier, auch wenn ihr Standbild verschwunden ist! Wir müssen sie gar nicht suchen! Sie ist überall, nicht nur an diesem abgelegenen Ort! Eigentlich brauchen wir gar kein Bildnis von ihr. Sie ist in uns drin. Wir müssen nur still sein, dann hören wir ihre leise Stimme, ihren Trost und ihren Rat!“, meinte Kollegger. Ich blickte auf zu den Votivgaben, den zahlreichen Silberherzen, Wachsfüßen und Holzhänden an der Wand, die von der Güte der Madonna zeugten.
„Ich habe ihr glockenhelles Lachen gehört, als ich hereinkam!“, sagte ich dann und Kollegger sah mich an:
„Das ist sie! Unsere Liebe Frau vom Schnee, der Meerstern, der verschlossene Garten, unsere liebe Regina Coeli … Salve, regina, mater misericordiae, vita, dulcede et spes nostra, salve …“
Der Jenische kniete nieder und betete still. Dann, aufstehend:
„Es ist schön, dass du endlich zurückgekommen bist, Diaula! Ich bin so froh. Ich habe lange auf dich gewartet. Du hast mir sehr, sehr gefehlt. Aber ich wusste, dass du irgendwann wiederkommst.“
Wir schauten uns lange in die Augen, und mir wurde warm von seinem Blick. Ich hatte das Gefühl, endlich, nach langer Reise, zu Hause angekommen zu sein.
Ich breitete ein weißes Tuch auf dem Steinboden aus. Kollegger öffnete die Weinflasche, indem er sie dreimal sanft an die Wand schlug und den Zapfen herausspringen ließ, schenkte uns vom Wein ein, der rotbraun und klar in die Blechtassen floss und sagte:
„Der Wein des Bischofs von Chur, dieser Churer Schiller, der tut gut. Zum Wohl, Monsignore! Zum Glück so weit weg und nicht ahnend, was in unserem Dorf im Valsass so alles so vor sich geht!“
Wir setzten uns in die hinterste Bank und aßen, nicht ohne vorher einen Teller mit etwas Brot, Käse, Wurst und auch einen Schluck Wein in einer Tasse vor die Nische der lieben Frau hinzustellen. Der an die Außenwand gemalte heilige Christophorus – der durch Wände hindurchzuschauen vermag – bewachte die Gabe mit begehrlichen Augen.
Aurel vergewisserte sich, dass der Zwerg verschwunden war, schloss das Tor und drehte den Schlüssel und setzte sich wieder zu mir. Er erzählte leise, was sich in den Jahren meiner Abwesenheit in Devonn alles zugetragen hat. Er schilderte den illegalen Bau der Privatklinik Huggentobler auf der Allmend – mit Steuergeldern des Kantons und Subventionen des Bundes –, obwohl die Bürger der Region mit großer Mehrheit gegen den Bau waren. (Aber die sind ja sowieso immer erst gegen alles Neue.)
Ich erkundigte mich nach den Eskapaden des buckligen Männleins. Aurel berichtete, dass der Zwerg, der sich jetzt Frocin N.N. nennt, sich als Anwalt und Alchemist ausgibt, der kurz vor dem Durchbruch stehe, wie Rumpelstilzchen Gold herstellen zu können! Er verbreite es überall, aber bislang sei er nur um Huggentobler geschwänzelt und erledige grobe Arbeiten für ihn, wie etwa das Entsorgen von Klinikabfall.
Aurel erzählte leise von Huggentoblers großen Erfolgen und von dessen Freund und Mitstreiter, dem Chirurgen Professor Béranger Brechbühl aus Lausanne und dem gerissenem Prokuristen Heini Bindschädler. Er erwähnte die vielen reichen Fremden aus aller Herren Länder, kinderlose Patienten, die mit neuer Hoffnung auf Nachwuchs sich von Huggentobler in der Klinik beraten und behandeln lassen, wo viele Männer und Frauen aus dem Dorf Arbeit gefunden haben.
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