„Wo gibt es heutzutage noch Güggel?“
Einer seiner Feuerwehrmänner, mit Namen Tancredi Spadini, wusste Rat. Per Helikopter wurde eiligst ein Gockel von einem Biohof im nahen Zizers geholt. Man stellte das braune Prachtexemplar aufs Dach eines Feuerwehrautos, und siehe da, der Hahn krähte! Die überlebenden Hennen, ein paar Hundert an der Zahl, beruhigten sich und konnten schließlich wieder eingefangen werden.
Die Stadtreinigung war verzweifelt. Sie vermochte das Chaos nicht allein zu bewältigen. Auch die in Chur stationierten Rekruten der Schweizer Armee wurden zum Mithelfen abkommandiert. Auch am Wochenende wurde mithilfe von Freiwilligen Tag und Nacht gearbeitet, um die Straßen zu säubern von Hühnerkörpern, Kot und zerbrochenen Eierschalen, verklebtem Eiweiß und Dottern, Knochen und Federn. Hunde, Katzen, Marder und Stadtfüchse fraßen sich satt. Es wurden mehrere Millionen tote Vögel gezählt, viele ohne Kopf oder Beine. Deren Ausbruch in die Freiheit hatte verheerende Folgen. Die Bilanz des mutwilligen Aufstands und der Zerstörung ging in die Millionen Schweizer Franken. Der Preis von Hühnerfleisch wird um das Doppelte steigen. Man wusste noch nicht, ob die Gesundheit der Bevölkerung unter dem Hühner-Überfall leiden wird. In einer Baugrube im nahen Landquart wurde viel Hühnerfleisch entsorgt, ein Großteil aber in Schiffscontainer gefüllt und wahrscheinlich zum Südpol verfrachtet.
Wieder zurück in Devonn, mit vielen Fragen
Das Dorf ist abends still und wie ausgestorben. Die alten Frauen helfen in den Küchen Gemüse rüsten und Kartoffeln schälen, die Greise sitzen mümmelnd vor dem Fernseher, sehen immer wieder dieselben Filme und vergessen sie gleich wieder. Sie haben kaum mehr Zeit, wie früher auf der Bank vor dem Haus miteinander über die Schlechtigkeit der Welt zu klagen, jungen Frauen unter die Röcke zu schauen und einander beim Kartenspiel zu betrügen.
Bei meinem Flug in der Dämmerung habe ich etwas entdeckt. In der verlassenen Mühle brannte Licht. Was geht dort vor? Ist Wettstein zurückgekommen? Ich habe mehrere menschliche Schatten beobachtet, Stimmen und eine Tür zuschlagen gehört. (Oder war es doch der Wind, der Wind, das himmlische Kind?) Wahrscheinlich halten sich hier Guerillakämpfer versteckt. Mir scheint, ich habe für einen ganz kurzen Augenblick Che Guevara gesehen, wie immer mit der schwarzen Baskenmütze mit dem Stern des Comandante auf dem Kopf und bei ihm, in Uniform und mit angelegtem Gewehr, die schöne Tamara Bunke, die Übersetzerin und Abenteurerin, die sich für die Operation Fantasma in Boliven vorbereitet. Warum ist sie dort und nicht ich? Es wäre doch mein Platz! Ich werde das Gesehene für mich behalten, heute Nacht hingehen und fragen, ob die Guerillos auch mich brauchen können.
Conradin ist wieder auf der Alp Sc. Ich hörte es von seinem dementen Vater, den ich beim Briefkasten traf. Siggi Padrutt erzählte stolz, dass sein Sohn promoviert hat und Gletscherbiologe an der Universität Wien ist und als Professor der Glaziologie amtet. (Auch mein Ex-Mann, Atli Gudmundursson, der Vulkanologe, ist Professor an derselben Uni und die beiden Freunde sind vehemente Umweltschützer. Sie werden von ihren Studenten scherzhaft Feuer und Eis genannt.) Ich traf Conradin Sinfjötli im Konsum. Er hatte wie immer seinen uralten Militärrucksack dabei und sich kaum verändert. Nur seine Gesichtszüge sind schärfer geworden. Conradin erzählte eifrig von seinem Forschungsprojekt: Er untersucht mit Kollegen seiner Uni den Zustand der Alpengletscher und die Verschmutzung der Alpengewässer und arbeitet Gegenmaßnahmen aus. Mein Freund wohnt wieder auf der Alp Sc und lebt sein veganes, asketisches Leben und geht dem alt gewordenen Sennen Cadruvi immer noch zur Hand. Conradin zog mich zur Seite und bat mich, ein Auge auf den Orchideenzüchter Vandemeer de Boer und vor allem auf Huggentobler zu haben. Mit Handschlag erneuerten wir unsere Freundschaft und verabredeten uns für eine Bergtour zur Prada persa.
Die Bank bei der Kirche ist frisch gestrichen. Dort saß gestern wieder der seltsame Mann mit den brennenden Augen, dieser Wittgenstein, der mir schon als Kind aufgefallen ist. Er trug einen abgewetzten schwarzen Ledermantel, der ihn noch magerer erscheinen ließ. Als ich mich auf die Bank setzen wollte, rückte er unwillig zur Seite. Er hatte eine alte Schreibmaschine neben sich auf der Bank, tippte etwas und schüttelte verneinend den Kopf. Ich bot ihm eine Zigarette an, aber er winkte ab.
„Die gesamte Wirklichkeit ist die Welt. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir ihn uns denken. Die Welt zerfällt in Tatsachen“, zischte er, und hämmerte dann die Worte mit zwei Zeigefingern in die Maschine. Dann starrte er mich an, ohne mich zu sehen. Ich zog es vor, zu schweigen und nickte nur, denn ich ahnte, dass Herr Wittgenstein Frauen nicht mitreden lässt. Jedenfalls nicht eine Köchin, die in ihrer Freizeit über die Hausdächer fliegt …
„Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist“, glaube ich gehört zu haben, und begann etwas an den Fingern abzuzählen.
„Ja, so sehe ich das auch!“, nickte ich.
Eigentlich gefiel mir der Sonderling. Was er sagte, macht Sinn; war sonnenklar und logisch. Die Schreibmaschine klingelte.
„Die Welt und das Leben sind eins, funf Punkt 621“, sagte er zu sich selbst und tippte. Ich lächelte. Das klingt nach Parmenides mit einem Hauch Sufi-Mystiker. Spannend! Sollte ich mich philosophisch vielleicht an Herrn Wittgenstein orientieren? Ich nahm mir ein Herz und fragte ihn nach der Langeweile. Ich hätte allzu gerne etwas darüber vernommen. Aber der Philosoph gab keine Antwort. Er klemmte nur seine Schreibmaschine unter den linken Arm und entfernte sich, in der Rechten die Klarinette im grauen Strumpf. Ich schaute ihm nach. Ich sehnte mich nach Kollegger. Der kann zuhören.
Wieder allein, wurde mir bald klar, dass die Langeweile noch nicht aus meinem Leben verschwunden ist. Immer wieder fällt sie über mich her und würgt mich. Ob Che oder Wittgenstein je mit der Langeweile kämpften? Auch der Philosoph Heidegger hat unter anderem über die Langeweile nachgedacht. Nach ihm verschlingt vor allem die grundlose, beziehungslose Langeweile das Selbst. Auch die Zeit verschwindet in der Lähmung der Langeweile, und es entsteht etwas wie eine Nicht-Zeit. Ein schwarzes Loch. So habe ich es schon in meiner Kindheit erlebt, als ich im Haselgebüsch hockte. Nur die kleinen Handlungen lassen die Zeit wieder fortschreiten. Es gibt also gar keine Zeit außer der Zeit unseres Tuns. Das Aufraffen dazu ist, mit Heideggers Worten zu sprechen, die existenzielle Freiheit.
Bei mir ist die Langeweile ein Sog, aus dem immer eine unbändige Sehnsucht ins Unbekannte und Ungebundene entsteht. Dann muss ich reisen. Irgendwohin. Weit weg. Es gibt auch nur ganz wenige Menschen, die ich nach kurzer Zeit nicht leer und langweilig gefunden hätte. Einer davon ist Aurel Kollegger, die anderen sind Großvater, Hochwürden Teilhard, Conradin und Margret Prevost. (Atli Gudmundursson fand ich anfänglich spannend, aber nach einem Jahr Ehe hatte er mir nichts mehr zu sagen und ich langweilte mich endlos in seiner Gesellschaft.) In Gegenwart von Katzen empfinde ich nie Langeweile. Mittelalterliche Kunst kann meine Langeweile für geraume Zeit überwinden, ebenso die Bilder von Tiepolo, Segantini, Manet, Klimt und Klee. Gegenwärtige Kunst haut mich nicht vom Hocker. Die Alpen jedoch, mit ihren Felswänden und Gipfeln im sich ständig verändernden Licht, grünen Tälern und Wäldern, Seen, Flüssen und Staubbächen, an denen ich mich nicht sattsehen kann, sind neben dem Kochen, dem Schreiben und dem Flippern fast die einzige Medizin gegen die Umklammerung der Langeweile.
Devonn, spät nachts, 20. Juli 89
Gegen Mitternacht, als das Dorf schlief und nur irgendwo ein Hund den Mond anbellte, schlich ich mit einer Taschenlampe durchs Dorf. Alexas uralter Tigerkater Mausi war auch in irgendeiner Mission unterwegs und folgte mir. Ich wollte an der Kirche vorbei zur alten Mühle, den Guerillos meinen Dienst anbieten. Beim Eingangstor zum Friedhof lehnte eine dunkle Gestalt und rauchte. Eine Baskenmütze beschattete das halbe Gesicht. Ich konnte den süßen Pfeifentabak von ferne riechen. Es muss Che Guevara gewesen sein. Ich wagte mich näher. Er schlug sein Gewehr an und sagte mit unterdrückter Stimme:
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