Er war nicht in der Lage zu schlafen und sprang auf. Leise verließ er sein Zimmer und trat in den dunklen Thronsaal hinaus. Am Fenster nahm er den dunklen Schatten seines Vaters wahr. „Komm her, mein Sohn, und sieh es dir an. Seit Jahrhunderten habe ich das nicht gesehen.“
Mason trat zu seinem Vater ans Fenster und folgte seinem Blick über die glitzernde Schneelandschaft, die die rauen Felsen in ein viel zu freundliches Kleid steckte. Am Horizont strahlte eine Lichtsäule in den tiefschwarzen Himmel.
„Was ist das?“
„Das“, antwortete Nalar, „ist der Glanz des Lichtpalastes. Er schickt sein Leuchten in den Nachthimmel, und alle im Land wissen nun Bescheid. Sephora ist wieder da. Und sie ruft sie zu sich. All die Wesen, die auch nur annähernd ihr zugewandt sind, werden zum Lichtpalast pilgern. Auch aus unserem Teil des Landes werden die Zweifler sich zu ihr ziehen lassen. Das war schon immer so. Nicht einmal die Himmelsgestirne können dem widerstehen. Schau!“ Nalar zeigte nach oben. Die Monde der Welt hatten sich geteilt. Mason starrte gebannt in den Himmel.
„Ich wusste nicht, dass sowas möglich ist“, sagte Mason. Pula und Puti standen über dem Schein, den der Lichtpalast von sich gab. Im Widerschein leuchtend, fest beieinander, vereint und standhaft. Itim jedoch, die kleine graue Kugel mit dem finsteren Gesicht, wanderte ziellos über ihre eigene Burg hinweg, unruhig von einer Seite des Himmels zur anderen, wie ein Wolf in einem viel zu kleinen Gehege.
„Was bedeutet das, Vater?“ Mason war unbändig neugierig und verfluchte die genießende Ruhe, die sein Vater ausstrahlte.
„Das ist der Beginn. Es wird einen Krieg geben und es ist offen, welche Seite dieses Mal siegt. Du kennst die Geschichte, Sohn.“
„Ja, aber beim letzten Mal gab es nicht mal einen Krieg. Nur ihr beide habt eure Kräfte gemessen. Keine Seite hat gesiegt. Sephora verschwand einfach. Und wir waren zum Warten verdammt. Wir sollten besser nicht zögern und sofort unsere Truppen zusammenstellen. Lass uns zum Palast ziehen. Sieh dir doch ihren Hochmut an. Leuchtet wie eine Fackel und weist uns den Weg. Worauf warten wir?“
„Benimm dich nicht wie ein Kind. Es wäre unnütz, wenn wir dorthin ziehen. Wir kämen ohnehin nicht durch. Sephora hat ihr Reich geschützt mit lichter Magie. Wir können sie nicht brechen. Lass ihnen Zeit für die Vorbereitungen und genieße die Vorfreude einer großen Schlacht. Wir warten ab, bis sie zum Kampf bereit sind, und dann zerschlagen wir sie ein für alle Mal.“
Nalar trat vom Fenster zurück und verließ den Raum. Mason blieb allein zurück und beobachtete weiterhin den Nachthimmel.
Hoffnung und Erinnerung sind zwei liebliche Schwestern.
Erstere ist wie Morgenrot; sie lächelt lange vorher,
ehe die Sonne erscheint.
Letztere umspielt uns wie Abendröte,
wenn auch die Sonne schon längst untergegangen ist.
Heinrich Martin
„Es beginnt.“ Enndlin stand in den Baumwipfeln und ihre Augen schimmerten in einem zarten Grün. Beinah durchsichtig. Ana stand einige Äste unter ihr und schaute zu den erwartungsvoll nach oben blickenden Frauen, die es sich auf den unteren Ästen bequem gemacht hatten. „Sie hat den Blick. Sie sieht es. Sephora ist zurück!“
Bewegung kam in die Massen unter ihr. Brida schlug erfreut die Hände gegeneinander. Yrmel umarmte Agth und die alte runzlige Kwne sah mit glänzenden Augen ihre Enkelin Affra an, die auf ihrem Schoss saß.
„Dann ist die Eine geboren und auf dem Weg zu uns.“ Geschickt sprang die siebzehnjährige Ana von einem Ast zum nächsten, bis sie unten ankam. Aufgeregt prasselten ihre Fragen auf die anderen ein.
„Was meint ihr? Wann wird sie hier sein? Wie ist sie? Kommt sie allein? Wird sie Hilfe haben? Ob sie uns überhaupt findet?“
Kwne hob die Hand und gebot ihr Einhalt. „Kind. Du und deine Fragen. Überstürze es nicht. Wir wissen noch nicht, ob sie schon eine Entscheidung getroffen hat. Alles lastet auf ihren Schultern. Die alte und die neue Welt liegen nun in ihren Händen und nur sie kann mit ihren Handlungen beeinflussen, wie es weitergehen wird.“
„Omama“, piepste Affra aufgewühlt. „Wie heißt sie?“
Das pulsierende grüne Schimmern unterbrach sie alle und zog ihre Aufmerksamkeit an. Enndlin war von einem lebhaft fließenden Strom grüner Aura umgeben. Ihre Augen jedoch waren bereits klar und wieder im gewohnten Dunkelgrün. „Charlotte von Lux und Umbra. Das ist ihr Name. Ich sehe auch sie. Sehr schwach, doch ich sehe sie. Ihre Aura ist noch nicht eindeutig. Wir müssen abwarten.“
Wahrheit kennt keinen Kompromiss.
Swami Vivekananda
Mathis erwachte noch vor dem ersten Sonnenstrahl. Sofort ergriff ihn eine innere Unruhe und das Stillliegen fiel ihm schwer. Um Benedicta nicht zu wecken, stand er leise auf und schlich sich aus dem Zimmer. Er fand den großen Saal und stieß die Flügeltüren auf. Geblendet von dem hellen Strahl, der aus einem großen Becken steil nach oben schoss und aus einer Öffnung im Dach bis in die Morgendämmerung hineinleuchtete, sah er Sephora nicht sofort. Beim Klang ihrer Stimme zuckte er zusammen.
„Mathis! Du bist schon wach?“ Sephora trat vor ihn und verdeckte die gleißende Helligkeit mit ihrer Gestalt.
Mathis blinzelte und nickte. „Ich kann nicht länger schlafen. Irgendetwas trieb mich aus dem Bett. Meinst du, meiner Mutter geht es gut?“
„Sie lebt, falls du das wissen möchtest. Aber sie ist verletzt. Ich weiß nicht genau, wie schwer. Aber ich bin sicher, dass du sie wiedersehen wirst.“
Mathis gab sich damit vorerst zufrieden. Neugierig beugte er sich zur Seite. „Was ist das?“, fragte er und schaute auf den Lichtstrahl, der unbeirrt nach oben schoss.
„Ich zeige der Welt, dass ich zurück bin.“
„Meinst du, dass das sinnvoll ist? Du leuchtest dem Namenlosen den direkten Weg zu uns.“ Mathis runzelte seine Stirn, schaute dann zu der gütig lächelnden Frau auf.
„Er wird nicht hierherkommen. Das wagt er nicht. Er ist nicht dumm, Mathis. Nalar weiß, dass meine Grenzen gut geschützt sind. Meine Magie würde ihm immense Schmerzen bereiten, seine Schergen würden es nicht überleben, hier einzudringen. So viel Licht ertragen sie einfach nicht. Aber unsere Verbündeten müssen wissen, dass ich zurück bin. Sie müssen die Chance bekommen, sich vorzubereiten. Den Zweiflern gibt es die Möglichkeit, sich zu entscheiden. Es gibt so viel zu tun und trotzdem müssen wir jetzt erst einmal nur auf deine Mutter warten.“ Seufzend zog sie den Jungen von dem Lichtstrahl fort.
Doch Mathis machte sich frei und ging staunend um das Becken herum. Winzige lichtdurchflutete Kugeln wirbelten in die Höhe. Sie tanzten umeinander und Mathis war, als könne er sie juchzen hören. Verwirrt schüttelte er seinen Kopf. Eine der Kugeln löste sich und kam direkt auf ihn zugeflogen. Mathis streckte seine Hand aus. Schwungvoll landete das funkelnde Objekt auf ihr. Im selben Moment hörte er in seinem Kopf eine angenehme Stimme. „Hallo Mathis! Ich freue mich, dich kennenzulernen. Deine Mutter hat mir bereits von dir erzählt.“ Die sich eng anschmiegende Kugel wärmte ihn, füllte ihn mit Hoffnung aus. Mathis atmete erleichtert auf.
Mit einem Krach flog die Tür auf und Benedicta kam hereingestürmt. Als sie Mathis erblickte, hielt sie inne. „Mann, ich dachte, du machst Dummheiten und bist weg!“
„Warum sollte ich das tun?“ Noch immer hielt Mathis die Lichtkugel fest in seiner Hand. Er wollte dieses wunderbare Gefühl noch einen Moment spüren.
Benedicta wand sich und wollte nicht so recht antworten. Hilfesuchend sah sie zu Sephora hinüber. Die nahm gerade an einem gedeckten Tisch Platz und lud mit einer Handbewegung die Kinder ein, sich zu ihr zu setzen. Sie folgten ihrer Aufforderung und setzten sich ihr gegenüber. Erst jetzt gab Mathis die Kugel frei, die fröhlich zu ihren Gefährten schwebte und in den Strudel eintauchte, um in den Morgenhimmel aufzusteigen.
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