Benedicta benötigte keine Aufforderung, sie wartete bereits ungeduldig.
Als Mathis neben Sephora den Berg hinunterlief, fasste Benedicta seine Hand. Mathis bemerkte es kaum, zu sehr faszinierte ihn die Wehranlage, der sie näherkamen. Wachen liefen ihnen entgegen und verbeugten sich tief vor Sephora.
„Schon gut!“ Mit einer Handbewegung hieß sie ihre Untertanen, weiterzugehen und sich wieder ihren Pflichten zu widmen.
Als sie über die Zugbrücke gegangen waren, hievten vier Männer sie sofort nach oben. Mathis sah, dass sich Sephoras Schultern entspannten. Der harte Zug um ihre Lippen wich einem Lächeln.
Jetzt musste er seine Neugier nicht länger zügeln. Mathis ließ Benedictas Hand los und lief voraus. Das kleine Stück Wiese, dass sich zwischen Mauer und Wassergraben befand, würde kaum Platz für mehr als zwanzig Männer bieten, aber das war auch nicht nötig, denn dahinter wartete die mächtige Mauer. Deren Gittertor war hochgezogen. Als Mathis die Mauer durchschritt, zählte er zehn Schritte, bevor er wieder ins Freie trat. Er drehte sich nicht um, denn das Quietschen des herabsinkenden Gitters sagte ihm, dass die anderen ihm gefolgt waren. Stattdessen sah er staunend nach oben. Mathis stand zwischen zwei Mauern – es gab eine äußere und eine innere dicke Wand. Steile Treppen führten von dem schmalen Zwischenstreifen auf die äußere Mauer, auf der, wie er vermutet hatte, Wachen patrouillierten. Sanft schob Sephora ihn nun durch das weit geöffnete Tor der zweiten Mauer in den Innenhof. Vor ihm lag eine Burg, die heller strahlte, als alles, was er jemals gesehen hatte. Mathis hob den Arm und legte ihn schützend über die Augen, um die blendende Helligkeit ein wenig abzuschwächen. Die Wände glitzerten im schwachen Licht der untergehenden Wintersonne, als wären sie mit Diamanten besetzt. Auf dem Dach türmten sich Schneemassen. Bodentiefe Fenster zierten die gesamte vordere Ansicht. Für den Moment hatte Mathis seinen Kummer vollständig vergessen. Er betrachtete mit offenstehendem Mund das lichterfüllte Gelände. Bewegungen auf dem Weg über den Innenhof, auf dem mehrere kleine Häuser standen, zogen seine Aufmerksamkeit an. Alle Dächer trugen eine dicke Schneedecke und zu den Eingangstüren führten nur schmale Pfade, links und rechts von Schneebergen gesäumt. Und trotzdem, waren viele Gestalten dort unterwegs, leuchteten unzählige kleine Lichter unter dem Schnee hervor. Aus überdachten Pferchen blökten ihm Schafe entgegen, suhlten sich Schweine im Schneematsch und aus den angrenzenden Ställen erklang das Trampeln von Pferdehufen. Die allgegenwärtigen Liwanaganer, die Mathis sofort an ihrem kleinen Körperwuchs erkannte, lächelten ihn freundlich an, verbeugten sich tief vor Sephora und betrachteten Benedicta mit erstaunten Gesichtern, als sie auf einem der schmalen Pfade zum Palast gingen.
Als sich das Eingangsportal zum Palast knarrend geöffnet hatte, hörte Mathis Sephora sagen: „Willkommen im echten Palast des Lichtes!“
In Armut und sonstiger Not aber
gilt der Freund als die einzige Zuflucht.
Aristoteles
Voller Sorge betrachtete Sage Carly, die reglos in seinen Armen lag. Sie zeigte keinerlei Anzeichen, dass sie erwachen würde. Mehrfach hatte er sie durchsucht in der Hoffnung, das leere Röhrchen zu finden, doch sie hatte es nicht bei sich. Noch schlug ihr Herz schwach, doch Sage fürchtete den Moment, an dem es aufhören würde. Hatte sie sein Blut getrunken? Würde sie zurückkommen, ganz egal wie? Je länger er darüber nachdachte, desto unsicherer wurde Sage. Er kannte ihre Entscheidung nicht, doch er wusste eins ganz sicher: Lieber würde er mit einer lebendigen, ihn hassenden Carly leben als ohne sie.
Er biss sich selbst und flößte Carly sein Blut ein. Sollte sie sich bewusst dagegen entschieden haben, sein Blut zu trinken, würde sie ihm das unter Umständen niemals verzeihen. Aber es war ihm egal.
Vorsichtig stand er auf und hob Carly auf seine Arme. Einen erneuten Sprung würde sie in diesem Zustand nicht verkraften und Sage hatte auch keine Ahnung, welche Verstecke sein Vater wirklich nicht kannte. Offensichtlich wusste er mehr, als Sage lieb war. Er brauchte also dringend einen Unterschlupf für sie beide – hier, in dieser Zeit, die er nicht festgelegt hatte. Sein einziger Gedanke beim Sprung war gewesen, ein sicheres Versteck zu finden. Sie waren hier gelandet, mitten im Wald. Noch wusste Sage weder wo, noch wann er angekommen war. Er musste es schnellstens herausfinden, denn Carly würde sehr lange Zeit benötigen, um zu genesen. Oder mit dem Umstand, ein Vampir zu sein, klarzukommen. Doch den letzten Gedanken verdrängte Sage. Er würde alles tun, um sie davor zu bewahren. Nur als letzte Möglichkeit, um sie nicht für immer zu verlieren, zog er dieses Dasein für Carly in Betracht.
Vorsichtig lief er los. Sein Instinkt lenkte ihn. Als die Bäume ihm endlich den Blick freigaben, sah Sage, dass er sich auf der Kuppe eines Berges befand. Tief im Tal spiegelte sich das Mondlicht in einem See, eingebettet zwischen massiven Felsen, auf denen nur versprengt einige Lichter zu sehen waren, die auf Dörfer hinweisen.
Sage versuchte, so behutsam wie möglich aufzutreten, damit Carly nicht durchgeschüttelt wurde. Trotzdem wimmerte sie leise. Sein Herz schlug, im Gegensatz zu ihrem, laut und hart gegen seine Brust, eine imitierte menschliche Eigenschaft, die er so verinnerlicht hatte, dass er sie nicht ablegen konnte.
Vor ihm tauchten die ersten kleinen Hütten eines schlafenden Dorfes auf. Alles war friedlich, niemand schien mehr wach zu sein. Sage hoffte, dass man ihm dort helfen konnte. Vielleicht würde ja sogar eine Hütte leer stehen. Er ging geradewegs zum größten der Häuser – ein zweistöckiges Gutshaus in einem großen Hof. Dort würde vermutlich einer der Dorfältesten wohnen. Ungestüm klopfte er an die Tür. Sage wagte nicht, Carly auch nur einen Moment abzulegen, also benutzte er seinen Fuß. Dann wartete er ungeduldig. Nichts. Noch einmal trat er gegen die Tür, so fest, dass sie beinah aus den Angeln flog. Endlich nahm er den Lichtschein einer Kerze im Haus wahr und beobachtete, wie der Träger selbiger sich langsam und vorsichtig durch das obere Stockwerk bewegte. Mit seinen Vampirsinnen hörte er die zaghaften Schritte auf der Treppe, bis die Person vor der Tür verharrte. Sage war sofort klar, dass er sich am Anfang des 18. Jahrhunderts befand. Es gab kein elektrisches Licht und auch die Öllampe war offenbar noch unbekannt.
„Wer ist dort?“ Eine kräftige Männerstimme.
Sage war am Rande seiner Beherrschung. Carlys Herzschlag war kaum noch wahrzunehmen. Doch er konnte es sich nicht leisten, jetzt kämpfen zu müssen. Also entschied er, im höflichen Ton sein Anliegen vorzutragen.
„Jemand, der dringend Hilfe benötigt. Bitte öffnen Sie, mein Herr! Meine Gemahlin ist schwer verletzt. Sie wird sterben, wenn wir nicht eintreten dürfen.“ Sage musste sich weder verstellen noch anstrengen, um seiner Stimme die nötige Dringlichkeit zu verleihen.
Augenblicklich wurde die Pforte einen Spalt weit geöffnet. Sage sah als erstes einen grauen Vollbart, der die Lippen des Mannes fast versteckte. Mit misstrauischem Blick prüfte der Hausherr den Besucher. Als er Carly in Sages Armen entdeckte, öffnete er sofort weit seine Tür. „Herr im Himmel, was ist ihr passiert?“ Er trat einige Schritte zurück, so dass Sage eintreten konnte.
„Marietta!“, rief der Hausherr nach oben. „Komm schnell herunter. Wir brauchen deine Hilfe!“
Dann eilte er voraus und räumte ein altes, verschlissenes Sofa frei. „Schnell, schnell! Legen Sie sie hin! Ich werde sofort den Knecht nach einem Arzt schicken. Doch das wird dauern. Wir leben hier sehr abgeschieden.“
„Danke. Das wird nicht nötig sein. Ich bin selbst Arzt. Alles, was ich vorerst brauchte, war ein Dach über dem Kopf und die Wärme eines Hauses.“ Bei diesen Worten blickte Sage auf den erloschenen Kamin. Der Mann verstand sofort. Er eilte nach draußen, um Holz zu holen.
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