Nach und nach kamen die anderen Mitglieder unserer Familie herein, meine Geschwister, Vater und schließlich Mutter. Yangchen hatte inzwischen den Ofen angefeuert, aus dem jetzt dicker Qualm quoll. Dann übernahm Mutter den Sitzplatz vor dem Ofen. Es dauerte nicht lange, bis sie sich ihre Augen rieb, wegen des beißenden Rauchs. Yangchen legte durch das Seitenloch ein paar Dungfladen nach, und der Qualm wurde noch schlimmer. Ich hatte mich neben Api zusammengerollt und lauschte träge den Gesprächen.
»Das Metallteil ist vom Rechen abgebrochen«, erzählte Vater, während er ein Stück Holz zurechtschnitzte. Hin und wieder ließ er seine Arbeit ruhen und trank einen Schluck Tee, dabei prüfte er sein Werk. »Was ist mit der Kuh? Sie ist längst überfällig mit dem Kalben«, fragte er Mutter, die am Herd in einem Topf herumrührte. Es würde wieder Nudelsuppe geben mit Gemüse aus unserem Garten, wo Kartoffeln, Karotten, Erbsen, Zwiebeln, Spinat und Rettich wuchsen.
»Sie wird immer apathischer, ich weiß auch nicht, hoffentlich ist alles in Ordnung«, erwiderte Mutter.
»Das wird ein Bulle, wenn er so lange überfällig ist«, warf Api ein und zwinkerte mir zu. »Vielleicht kriegst du bald deinen Bullen, Nunu.« Ich wünschte mir schon lange einen kleinen Bullen.
Api hockte im Schneidersitz auf ihrem Stammplatz am vordersten Sitz neben dem Ofen, schließlich stand ihr als der Ranghöchsten der Anwesenden dieser Platz zu, und drehte ihre Gebetsmühle. »So, Yangchen, jetzt hol mir meinen Chang«, beorderte sie meine Schwester, die neben Mutter am Herd hockte und die Karotten säuberte.
»Dann leg deine Gebetsmühle beiseite!«, fuhr Vater dazwischen. »Gebete an den Buddha und Chang passen nicht zusammen. Jedenfalls nicht gleichzeitig.«
Manchmal stritt mein Vater mit Api, weil für sie alles Mögliche zusammenpasste, was andere für unpassend hielten. Aber heute wollte sie offenbar keinen Streit anzetteln. Api wusste, ihr Sohn mochte es nicht, wenn sie allein in die Hauptstadt ging. Mit einem Knall platzierte Api ihre Gebetsmühle auf das Tischchen, als Yangchen ihre Tasse füllte. Sie tauchte die Spitze ihres rechten Ringfingers in die milchigweiße Flüssigkeit und schnippte dreimal in die Luft: nach oben, nach vorn und zur Erde hin. Es war ihre Gabe an die Götter des Himmels und der Erde, die offenbar auch Chang mochten. Dann trank sie das Glas in einem Zug leer. »Wohin gehst du jetzt wieder, Yangchen, du sollst mir nachschenken.«
Meine Mutter wiegelte bei solchen Streitgesprächen immer ab und wechselte das Thema: »Das Wasser auf unseren Feldern ist knapp. Man muss dem Churpon Bescheid geben, dass er den Kanal abends länger offen hält.«
Vater nickte, er würde am nächsten Tag mit ihm reden.
Nach dem kurzen Zwist lag wieder diese ruhige, beständige Wellenbewegung im Raum, entspanntes Geplauder über die Vorkommnisse des vergangenen Tages.
Das Abendessen wurde im Sommer spät fertig, denn das Kochen fing erst an, wenn alle Arbeiten auf den Feldern und mit den Tieren erledigt waren. Der lange Tag hatte mich müde gemacht, die Stimmen entfernten sich, ich döste schon ein, bis ich einen kalten Gegenstand in meiner rechten Hand spürte.
»Komm, Nunu, iss noch etwas Thukpa, dein Magen knurrt so laut wie der Hofhund draußen.«
Unter Apis Ermunterung schlürfte ich schlaftrunken ein paar Löffel heiße Suppe, und während mir die Augen wieder schwer wurden, hörte ich Mutter sagen: »Habt ihr schon gehört: Der kleine Tundup von der Mon-Familie soll zur Schule gehen. Nun braucht Onkel Angchuk einen anderen Hirten.«
»Der Junge von einem Trommler geht zur Schule. So ein Unfug, das kann nicht sein«, erwiderte Vater.
Dann fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Mit pochenden Kopfschmerzen lag Sonja im Bett, während Bilder auftauchten, die sie lange schon aus ihrer Erinnerung verbannt hatte. In diesen Stunden jedoch drängten sich vergessene Szenen, fragil und flüchtig, an den Rand ihres Bewusstseins. Fünfundzwanzig Jahre. Sie hatte tatsächlich lange nicht mehr an ihn gedacht. In der ersten Zeit aber, nach jenem Sommer, hatte sie in einer Endlosschleife die Szenen der wenigen gemeinsamen Wochen vor- und zurückgerollt. Auf der Suche nach einem Hinweis darauf, warum er an jenem Morgen einfach verschwunden war, wie ein Schatten und ohne ein einziges Wort der Erklärung. Nie hatte sie eine Antwort gefunden, und irgendwann war sie des zermürbenden Nachforschens, der fruchtlosen Grübeleien müde gewesen. Wie Zeit die Wahrnehmung verschob! Längst hatte ihre Gefühlslage sich entspannt. Nun aber gestand sie sich widerstrebend ein, dass in all den Jahren, wann immer sie diese Berge betrachtet hatte, ein stummes Echo in ihr mitschwang, ein Nachhall versäumten Glücks.
Noch bevor das erste Sonnenlicht sich über ihre Bettdecke ergoss, war die Geschichte wieder da. Die Verliebtheit, die ihr Flügel verliehen hatte. Mit Citta zusammen fühlte sie sich ganz, sobald sie getrennt waren, ertrug sie die Sehnsucht kaum. An diesem Morgen sah sie sein Gesicht wieder vor sich, fühlte förmlich seinen weichen, kräftigen Körper.
Jetzt also trat er wieder in ihr Leben. Unvermittelt und ungefragt. Nach einem Vierteljahrhundert! Mit einem Stapel von Hand beschriebener Seiten, in denen er sein Versprechen einlöste. Ich werde dir mein Leben erzählen, hatte er gesagt und vorsichtig ihre Hand genommen, wenn du das möchtest. Natürlich hatte sie gewollt. Damals. Alles hatte sie wissen wollen von ihm. Jetzt allerdings überlegte sie, ob sie die Briefe einfach wegwerfen sollte. Diese Geschichte war doch bereits abgeschlossen. Aus und vorbei. Hatte sie jedenfalls gemeint.
Im Widerstreit ihrer Gefühle kämpfte sie gegen den rasenden Puls und das Herzklopfen an, das ihr schier den Atem nahm. Wie sollte sie in diesem Zustand einer heiteren, neugierigen Reisegruppe entgegentreten und ihr dieses wundervolle Land nahebringen?
Erleichtert fiel Sonja ein, dass Samten an diesem Vormittag die Stadtführung übernahm. Sie musste also nichts weiter tun, als Präsenz zu zeigen. Dafür würde es noch reichen. Schließlich war sie professionell genug, mit der Gruppe das Frühstück einzunehmen und ein paar unverbindlich-freundliche Worte an ihre Teilnehmer zu richten.
Auf der engen Straße war viel los. Sie mussten hintereinander auf dem schmalen Rand zwischen Asphalt und der tiefen Regenrinne balancieren. Einmal sprang Sonja in einen Ladeneingang, um einem Laster auszuweichen, der keine Armlänge entfernt an ihr vorbeifuhr. Cafés, Restaurants und Souvenirläden säumten den Weg. Nach fünfzehn Minuten erreichten sie das Stadtzentrum, wo Motorräder, Autos, Menschen in einem heillosen Durcheinander die Straße verstopften. Über einer Gasse hing das Schild »one way road«.
»Einbahnstraßen auf dem Dach der Welt, das ist wirklich unglaublich«, fand Frau Volkers, »damit habe ich nicht gerechnet.«
»Gibt es hier keine Ampeln?« Jule schüttelte den Kopf.
»Doch«, entgegnete Sonja, »eine einzige! Allerdings funktioniert sie nicht.«
»Die Menschen fahren vorsichtig, weil sie so sanftmütig sind«, schaltete sich Heidrun ein.
»Eher weil sie miserabel Auto fahren. Aber keine Sorge, unsere Taxifahrer sind Profis. Sie werden uns sicher durch das Land bringen.« Sonja lächelte, gerade in den ersten Tagen war es wichtig, eine gute Atmosphäre in der Gruppe aufzubauen.
Die Stimmung war entspannt. Man bestaunte den Königspalast, blieb vor Antiquitätenläden stehen und betrachtete in den Schaufenstern religiöse Statuen aus Messing, Pappmachéfiguren, antike und neue Thangkas, bunte Schals, Kleider aus dünner Baumwolle made in India und handgestrickte Mützen aus Schafwolle. Herr Schneider fotografierte, Frau Volkers löcherte Samten mit Fragen zur Geschichte. Günter jammerte, dass er schlecht geschlafen habe; da aber niemand auf ihn einging, wandte er sich wieder Samtens Vortrag zu.
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