Mein Vater reagierte wie erwartet: »Ich wusste es doch, jede Rupie für diesen Sohn ist Verschwendung! Er ist und bleibt ein Nichtsnutz.«
»Halt den Mund«, blaffte Api meinen Vater von ihrem Platz aus an, wo sie bequem zwischen einem Haufen Decken und Fellen hockte. »Lass den Jungen in Ruhe. Schließlich hast du, mein Sohn, in diesem Flegelalter noch weniger Hirn gehabt als dein Kleiner hier!«
Während ich, hinter Apis Rücken versteckt, meinen Schuhen nachtrauerte, schob sie mir flink ein Stück köstlichen Baba in den Mund, gekneteten Gerstenteig. Mutter mischte sich nicht ein. Allerdings tat es ihr leid um das schöne Geld. Und ich musste wieder barfuß gehen.
Mit diesen Briefen, Sonja, will ich dir vom alten Ladakh erzählen, vom Leben in meiner Kindheit. Damals, so schien es, hatten unsere Traditionen Bestand für die Ewigkeit. Welch ein Irrtum.
Heute erlebe ich, wie sich unser Land rapide verändert. Die meisten Neuerungen befürworte ich. Straßen, gute Schulen, wetterfeste Kleidung und, ja, auch Schuhe, machen den Alltag angenehmer. Allerdings birgt dieser sogenannte Fortschritt auch Gefahren. Buddha mahnte: Gier und Maßlosigkeit machen den Geist rastlos und unzufrieden. Er hat recht; wir verlieren das Gefühl für das rechte Maß an Fortschritt. Was soll werden, wenn zahllose Autos auf viertausend Meter Höhe die Luft verschmutzen? Wenn Jugendliche mit einem guten Schulabschluss keine passende Arbeit im Land finden? Natürlich wollen sie nicht zurück auf die Felder oder Ziegen auf den Hochweiden hüten.
Doch wer bin ich, dies zu sagen? Auch in mir keimte früh eine Sehnsucht nach einem freieren Leben auf. Ohne die leiseste Idee, wohin mein Karma mich einmal führen würde.
Fünfundzwanzig Jahre ist es her, dass wir uns begegnet sind. Du warst eine Weltreisende, ungebunden und neugierig. Du warst einzigartig für mich, faszinierend. Erinnerst du dich an unsere gemeinsame Zeit? Ich wollte dir meine Familie vorstellen, und du wolltest meine Gedanken, meine Gefühle verstehen, meine Geschichte erfahren. Und ich die deine. Dazu kam es nicht, wir haben einander verloren. Vielleicht hast du mich längst vergessen.
Ich nehme es vorweg: Es war mein Fehler, dass ich unsere letzte Verabredung verpasste. Gewiss warst du sehr zornig auf mich, vielleicht auch traurig. Ich würde es verstehen. Aber es gab einen Grund dafür, Sonja.
Viel ist seitdem geschehen. Unser Leben strömt dahin wie ein Fluss, nichts bleibt, wie es ist. Doch nun habe ich einen Wendepunkt erreicht. Gerade deshalb finde ich wohl erst jetzt den Mut, dir zu sagen, dass die Zeit mit dir zu den schönsten meines Lebens zählt.
So will ich mein altes Versprechen einlösen: Ich erzähle dir meine Geschichte. Und wenn du es erlaubst, zeige ich dir gern mein Dorf.
Verzeih mir.
Julley, Citta
Schwungvoll spannte der Hotelboy die bunten Sonnenschirme auf, aus der Küche wehte das Klappern von Frühstücksgeschirr in den Garten. Stimmen, ein Auto, jemand kehrte den Gehweg. Sonja lauschte, vernahm leise, ganz vage nur eine Schwingung von Stille, über die alle Geräusche hinwegperlten wie eine beiläufige Melodie. Sie lehnte sich in ihren Korbstuhl zurück und genoss die ersten Sonnenstrahlen dieses Morgens. Für die Jahreszeit lag noch reichlich Schnee auf den Bergen. Es würde ein wolkenloser und warmer, ein perfekter Junitag werden. Sonja atmete tief durch. Sie liebte dieses Land, seit sie vor fünfundzwanzig Jahren das erste Mal hier gewesen war.
Im Hotelgarten gedieh üppige Vegetation, daran würde sie sich wohl nie gewöhnen. Gerade noch waren sie von Delhi über kahle, unberührte Berge geflogen, über tief verschneite Gletscher, auf die kein Mensch je seinen Fuß gesetzt hatte.
Als die Maschine nur eine Stunde später in weitem Bogen den Indus überquerte und inmitten der sandigen Ebene auf der Landebahn aufsetzte, als sie aus dem Flugzeug stieg, die scharfe kalte Morgenluft einatmete, wunderte sie sich einmal mehr, dass in dieser ausgedehnten Oase eine Stadt lag.
Vor der weiß getünchten Fassade des zweistöckigen Hotels mit seinen weinrot lackierten Fensterrahmen leuchteten Sonnenblumen, Vergissmeinnicht, Ranunkeln, Stockrosen, Tagetes und Rittersporn in satten Farben, in gepflegten Beeten gediehen Blumenkohl, Kartoffeln und Karotten.
Sonja trank von ihrem Tee. Gleich würde Samten eintreffen, der Leiter ihrer hiesigen Agentur, um das Programm für diese Reise mit ihr zu besprechen. In Gedanken ging sie die Tour durch, da trat er schon an den Tisch.
»Julley, Madam Sonja.«
Sie begrüßten einander mit einer Umarmung, plauderten über ein paar Belanglosigkeiten. Es war Sonjas erste Tour nach Ladakh in diesem Jahr und sie hatten sich seit Monaten nicht gesehen. Sonja mochte Samten. Er war zuverlässig und sie schätzte seine charmante und kluge Art, den Gästen sein Land zu zeigen. Samten würde die Gruppe begleiten, sich in den Klöstern darum kümmern, dass man alle interessanten Räume besichtigen konnte, und wenn möglich Sonderwünsche der Kunden erfüllen.
»Wie viele Leute haben wir in der Gruppe, Madam Sonja?«
Samten bestand auf der formellen Anrede, obwohl Sonja ihn oft gebeten hatte, sie einfach beim Vornamen zu nennen. »In unserem Land respektieren wir die älteren Menschen«, hatte er ihr erklärt. Die Älteren! Sonja schmunzelte beim Gedanken an seine Worte. Dabei lag ihr fünfzigster Geburtstag kaum ein Jahr zurück; zum Glück war sie auf einer Tour durch die Mongolei gewesen, sodass sich das wohlmeinende Drängen ihrer Freunde auf eine angemessene Party erübrigte und Sonja diesen Termin dezent übergehen konnte. Sie räusperte sich und kam auf Samtens Frage zurück:
»Zusammen mit uns beiden sind wir zu zehnt. Damit reichen zwei Autos.«
Es war eine klassische Kulturrundreise geplant. Jahrhundertealte Klöster, in denen bis heute reges Mönchsleben stattfand. Spaziergänge durch Dörfer, in denen die Zeit stehen geblieben war, wie das Programm versprach. Eine Exkursion zu Nomaden im Hochland an der Grenze zu Tibet.
»Können wir wieder Verwandtschaft von dir besuchen? Damit die Leute ein bisschen Kontakt zu den Einheimischen bekommen?«
»Ich gebe meiner Cousine Pema Bescheid, sie ist eine gute Gastgeberin«, versprach Samten. Außerdem wollte er die Gruppe morgen bei ihrem ersten Rundgang durch die Stadt begleiten.
Nachdem er gegangen war, überflog Sonja noch einmal die Liste. Die Gruppe bestand aus zwei Ehepaaren und vier Alleinreisenden: drei Frauen, ein Mann.
Sie machte sich auf dem Zimmer kurz frisch, zog ein paar Bürstenstriche durch ihr widerspenstiges dunkelbraunes Haar, dann kehrte sie zurück in den Garten, um ihre Kunden zu empfangen. Sie hatten geruht, eine Dusche genommen, einige berichteten, sie hätten bereits die Koffer ausgepackt. Nun rückten sie sich die Stühle unter den Sonnenschirmen zurecht. Ohne Umstände entspann sich eine lockere Unterhaltung, schließlich wollten die Reisegäste einander beschnuppern, einen ersten Eindruck bekommen von diesen Menschen, mit denen man nun drei Wochen verbringen würde.
Herr und Frau Schneider, beide in mittleren Jahren, erzählten von ihrer Safari in Namibia im vergangenen Jahr und von der Rundreise durch Thailand im Jahr zuvor. Nun also der Himalaya – über Ladakh kämen gerade viele Berichte im Fernsehen, erklärte Herr Schneider zufrieden, dieses ehemalige Königreich müsse man schon einmal gesehen haben. Er blätterte im Reiseprogramm. Seine Frau nickte ihm bisweilen zu, wirkte allerdings zurückhaltend.
Daneben saßen Verena und Heinz Volkers, pensionierte Lehrer. Sie bereisten vorwiegend Europa, gern auch Hochkulturen in Südamerika oder eben in Asien. Herr Volkers überließ seiner lebhaften Frau das Wort und lächelte derweil freundlich in die Runde. Sie waren beide von rundlicher Statur und stellten grinsend klar, dass sie keinerlei sportliche Ambitionen hegten. Auf Wanderungen würden sie gern verzichten, solange man mit dem Auto ebenso ans Ziel komme.
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