Philipp Löhle
Am Rand (ein Protokoll)
bearbeitet und mit Fußnoten versehen
von Philipp Löhle
fürs Staatstheater Nürnberg
FELIX BLOCH ERBEN
Verlag für Bühne, Film und Funk
Inhaltsverzeichnis
Title Page Philipp Löhle Am Rand (ein Protokoll) bearbeitet und mit Fußnoten versehen von Philipp Löhle fürs Staatstheater Nürnberg FELIX BLOCH ERBEN Verlag für Bühne, Film und Funk
1. 1. Am Ende dieser Geschichte gibt es einen Toten.
2. 2. 2. Juli, 8.17h morgens. Auf der Staatsstraße 2154 zwischen Fahrbach und Eslarn, nahe der tschechischen Grenze, nähert sich Frederick Kaufmann dem Ort Randhausen. Frederick Kaufmann ist Mitte dreißig. Dreiunddreißig. Er trägt einen Koffer bei sich, ohne Rollen. Er schwitzt. Und er macht einen verärgerten Eindruck. FRED Da fährt nicht mal ein Bus in dieses bekackte Dorf! Kackdorf! Frederick Kaufmann schimpft/ FRED Ich sage euch was, das hier wird noch/ Aber! Es hört niemand. FRED 1 Wenn im Wald ein Baum umfällt und keiner ist da, der es hört, macht der dann Krach? Was man allerdings hört, und Frederick Kaufmann ganz besonders, ist der aufgebohrte Auspuff eines VW Passat CC, der aus Richtung Fahrbach, Amberg, Nürnberg nach Randhausen brettert. Viel zu schnell. Fast ungehalten. FRED Das Kennzeichen habe ich mir gemerkt! Das Kennzeichen hat er sich gemerkt. 1 Falls Frederick Kaufmann jetzt etwas sagt, ist es wirklich nicht zu hören!
3. 3. 9:42h. Im Unterholz zwischen Fahrbach und Randhausen, walzt auf einer kleinen Lichtung, nahe einer Dickung ein Rehricken etwa zwei Quadratmeter Heu platt, legt sich auf die Seite und bringt nach 9,5 Monaten Tragezeit zwei Kitze zur Welt. Normalerweise gebären Rehe ihre Jungen doch in den Monaten Mai und Juni? Witterungsabhängig können sie aber durch sogenannte Keimruhe in Jahren mit spätem Frühling die Geburt äsungsabhängig verschieben. Die pausieren quasi die Schwangerschaft? Nicht nur quasi.
4. 4. Kurz vor 10/ 9.57h. 9.57h erreicht Frederick Kaufmann den Ort Randhausen. Die Szene erinnert an einen Spaghettiwestern: Ein Marktplatz, Hitze, Leere, Stille. Ein Fremder. (Also Frederick Kaufmann.) Fehlen noch diese Strohballen. Was für Strohballen? Die so rumkugeln. Die so ... chuuuh ... Strohhexen heißen die, glaube ich. Die heißen nicht Strohhexen. Sondern? Steppenläufer. Was? Die heißen Steppenläufer. Englisch: Tumbleweed. Deutsch: Steppenläufer. Klugscheißer. Nein. Steppenläufer. Ist ja auch egal. Ist nicht egal. Die heißen so. Doch, ist egal. Gibt es eh nicht. In Randhausen, bei Fahrbach.
5. 5. Also: 2. Juli, 10.03h. Frederick Kaufmann auf dem Marktplatz von Randhausen. Was macht er da? Weiß nicht ... Monolog? Aber ein sehr leiser Monolog. Vielleicht ... innerer Monolog. FRED Das scheint auf den ersten Blick ein ganz normales Dorf zu sein. Da die Post, eine Bäckerei, ein Gemüseladen. In der Mitte ein Springbrunnen, der/ Frederick Kaufmann sieht auf die Uhr FRED Jetzt automatisch eingeschaltet wird. Was er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wissen kann. FRED Sieht nicht so aus, als ob irgendjemand auf mich gewartet hätte. Aber ich bin da. Hier. Genau hier. Ich bin unter euch. Auch wenn ihr es noch nicht wisst, aber: Ich bin da! - Fertig?
6. 6. Beinahe wäre diese Szene, in all ihrer Unaufgeregtheit ungesehen verstrichen, wenn nicht Inge Kohlstett (57) gerade in jenem Augenblick Karotten in die dafür vorgesehene Holzkiste im Inneren ihres Gemüseladens verräumt hätte, wobei ihr Blick durch die Scheibe auf den Fremden mit dem Koffer fällt. Inge Kohlstett sagt nichts. Weder zu sich, noch zu den Karotten. Sie kräuselt aber ihre Lippen auf eine Weise, wie es nur die Kohlstetts können.
7. 7. Weitaus spektakulärer: Im selben Moment, in dem Inge Kohlstett ihre Lippen kräuselt und Frederick Kaufmann leicht zusammenzuckt, weil vor ihm plötzlich der Springbrunnen anfängt zu sprudeln, erhebt sich das eine der beiden Kitze, die vor kaum einer halben Stunde das Licht der Welt erblickten, und setzt wackelig einen Huf vor den anderen.
8.
9. 9. Etwa 564 Kilometer nordwestlich von Randhausen in Lage verlässt Melinda Henske (53) die Praxis ihres Onkologen Dr. Jonas Fiedel. MELINDA Ich hätte immer gedacht, dass es an so einem Tag regnet. Denkt Melinda. Und blinzelt in die Sonne. MELINDA Ich hätte immer gedacht, dass es an so einem Tag regnet. Sie denkt immer wieder diesen Satz. Eine Art Schutzmechanismus. Um keine anderen Gedanken zuzulassen. Dabei weiß Melinda: MELINDA Ich muss jetzt Dinge organisieren, bevor es zu spät ist. Ich muss mit allem reinen Tisch machen. Ich muss einen Plan machen, damit ich Punkt für Punkt alles klären kann. Ich muss jetzt einen Kaffee trinken und einen Plan machen. Eine Liste. Stichpunkte. Ich brauche Struktur und ich möchte Dinge erledigen und abkreuzen. Sie meint abhaken, oder? Aber sie denkt nur diesen einen Satz: MELINDA Ich hätte immer gedacht, dass es an so einem Tag regnet. Aber es regnet nicht. Nein. MELINDA Einen Kaffee bitte. Schwarz. Und haben Sie einen Stift für mich? 1 1 Das ist für den weiteren Verlauf unerheblich (wie so manches, was hier berichtet wird), aber vor der Praxis des Onkologen Dr. Jonas Fiedel sitzt fast täglich ein älterer Herr, ein Witwer, kerngesund, aber so einsam, dass sein Gesicht etwas dunkel Melancholisches ausstrahlt. Und bei jedem, der die Praxis verlässt, meint der Herr (dessen Namen wir leider nicht kennen) im Ausdruck einen Schock über eine Diagnose zu erkennen. Wobei das ein Trugschluss ist, denn natürlich kommen nicht 100% aller Patienten mit einer negativen Diagnose vom Onkologen. Umgekehrt, aber das weiß der ältere Herr wiederum nicht, und wenn doch, würde er hier nicht mehr sitzen, hilft er mit seinem traurigen Gesicht gerade jenen, die die Praxis von Dr. Jonas Fiedel mit schlechten Neuigkeiten verlassen. Denn die, die ihn, den älteren Herrn, da sitzen sehen, werden durch seinen jämmerlichen Anblick von ihren eigenen Problemen abgelenkt. So weit so gut, nur: Melinda Henske hat ihn nicht gesehen.
10. 10. Der Kellner nickt. Da ist es kurz vor halb 12. Im äußersten Norden Grönlands, etwa 816 Kilometer vom geografischen Nordpol entfernt, bricht ein Brocken Eis in der Größe eines Mehrfamilienhauses in den salzigen Ozean. Das ist so laut, das macht sogar Lärm, obwohl es niemand hört. (Bumm) Interessant auch, dass Eis an den Abbruchstellen eher blau als weiß aussieht. Woran das liegt?
11. 11. Frederick Kaufmann findet die Ratsgasse sieben. Er stellt den Koffer ab. Streckt sich. Dann greift er in die Umhängetasche und sucht und findet darin einen klobigen Schlüsselbund. FRED Also ... das ist jetzt schon ein besonderer Moment. Der Beginn ... Der eigentliche Beginn/ Nein. Keinen Monolog jetzt. Streichen wir. Frederick Kaufmann schließt die Tür im Erdgeschoss Ratsgasse sieben auf FRED Tritt ein, bring Glück herein! und betritt ein ehemaliges Ladenlokal. Staub, alter Müll. Was ist schlimmer als Müll? Alter Müll! Bierdosen. Ein wackliger Tisch. Eine schräg hängende Lamellenjalousie. FRED Nicht mal ein Stuhl. Ich dachte, ich komme hier rein und kann anfangen, aber das hier ist ja ... unter aller Kanone. 1 1 Sub omni canone (zu betonen cánone, auch die pluralische Form sub omnibus canonibus ist gängig) ist eine Bewertungsstufe von Dissertationen, die eine ungenügende Leistung kennzeichnet. Aus der wohl scherzhaften schülersprachlichen Übersetzung dieses Prädikats entstand im Deutschen die Redewendung „unter aller Kanone“, womit umgangssprachlich generell eine sehr schlechte Qualität gemeint ist.
12. 12. 2. Juli circa 14h. Inge Kohlstett kassiert Bibiana Franzen (72) ab. INGE 260 Gramm Pilze. Tippen, Rattern, Klingeln.
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