Günther Rühle
Ein alter Mann wird älter
Ein merkwürdiges Tagebuch
Herausgegeben
und mit einem Nachwort versehen
von Gerhard Ahrens
Günther Rühle
Ein alter Mann wird älter
Anmerkungen
Anhang
Editorische Notiz
Günther Rühle · Leben und Werk
Günther Rühle · Bibliographie
Nachwort
Gerhard Ahrens
Der andere Günther Rühle
Warum schreib ich das alles. Ich weiß nicht mehr, was ich schon alles geschrieben habe. In mir öffnet sich anscheinend so eine Art innerer Tresor. Ich war doch immer meine eigene Verschlusssache . g. r.
Mein merkwürdiges Tagebuch Mein merkwürdiges Tagebuch Ein Prolog
Oktober 2020 Oktober 2020 10. Oktober 2020 Tagesgespräch 1 Nun ist es aus. Vor acht Wochen ging Schreiben und Lesen gerade noch. Drei Untersuchungen, trockene Makula, Altersdegeneration. Man ist wie abgeschnitten von seinem Leben. Ich bin jetzt – fast plötzlich – ein anderer. Ohne Zweck und Sinn. Wie einst, bevor man sich den Zweck beruflich zugelegt, dem auch einen Sinn zugelegt hat. Mein Zweck muss das Schreiben, der Sinn dessen Inhalt gewesen sein. Ich, der fröhliche Bub aus der Bäckerei Poths in Weilburg, bin im Theater gelandet, dort fixiert durch die Arbeit und die Meinung der anderen, Leser genannt. Wessen Geschöpf ist man? Das der Eltern, seiner selbst oder der anderen? So plötzlich außer Dienst, außer Funktion gestellt, lebt man nur noch für sich. Wird sich selbst das Ereignis des Tages. Was konnte ich vorgestern noch, gestern, heute. Nächste Woche wird man noch schlechter sehen, die Uhr nicht mehr erkennen. Man braucht das dritte Bein, das Wackeln beginnt, man braucht Hilfe und Hilfen. Heitere Einsicht (sehr vorübergehend), man hat noch eine Entwicklung. Wird Altersunternehmer. Wer putzt das Haus, macht die Wäsche, kocht. Die zunehmenden Reduktionen schaffen Bewegung für andere. Sinn, Zweck? Die Fragen von früher lösen sich auf. Fließen weg ins Überflüssige, ersetzen sich, werden gar wörtlich: Was wurde aus diesem und jenem? Wie kommst du durch? Redlich? Deutlich erkennbar? Verantwortlich oder unsicher, taumelnd, ziellos, schuldhaft? Warst du schäbig, was war falsch, was richtig? Die Fragen tropfen in einen hinein, rumoren. Hängt im Hintergrund noch immer das Jüngste Gericht? Lass das. Draußen kommt die Abendsonne.
November 2020
Dezember 2020
Januar 2021
Februar 2021
März 2021
April 2021
Vermächtnis
Anhang
Editorische Notiz
Günther Rühle: Leben und Werk
Günther Rühle: Bibliographie (Auswahl)
Der andere Günther Rühle
Mein merkwürdiges Tagebuch
Ein Prolog
Auf einmal machte es RUMS. Da merkte ich, ich wurde doch 96. Bis dahin sagte ich immer zum Scherz: »Na ja, ich bin ja auch erst 96«, wenn einer sagte: »Sie sind ja ganz schön fit.« Als wäre man ein Bestaun-Objekt. Jetzt war der Punkt. Die abgestellte Baumaschine am Kreisel hatte unten noch Kanten, die ich nicht sah, jetzt war unten der Riss im Schweller. Teuerste Stelle. Der Entschluss muss in mir gewartet haben. Nie mehr Autofahren. Schluss nach 66 Jahren. Ich wurde ein Taxist. Ein gutes halbes Jahr saß ich fortan im Taxi hinten rechts, wo immer die Direktoren sitzen. Es war ein ganz neues Fahrgefühl. Herrlich. Manche Fahrer, ob kroatisch, tschetschenisch, machten einem die Tür noch auf beim Aussteigen. Man konnte noch in die Stadt, an den Geldautomaten, im Supermarkt einkaufen. Auswählen. Man war nicht im Ruhestand. Noch immer nicht.
Als Journalist muss man nicht in den Ruhestand, solang einem noch was einfällt und man noch schreiben kann, sogar noch Lust dazu hat und merkt, dass man gar nicht aufhören will und kann mit dem Schreiben. Man denkt erst beim Schreiben. Ich konnte noch schreiben. Den ganzen Tag. Ich war in eine Arbeit geraten, die noch lange nicht aufhören wollte und sollte. Ich bin ins Theater geraten, ich weiß nicht, wie. Das Warum beschäftigt mich jetzt, da ich stillgestellt bin. Ich las damals, blätternd in alten Theaterkritiken von 1897, und plötzlich funkte es. Ich hatte den Beruf eigentlich schon hinter mir, war sogar aus Berlin zurück. Da, als ich einen Bericht, von wem war der nur, las, wie der alte Fontane mit Paul Schlenther in die erste Aufführung der »Gespenster« ging, 1897. Eine Stunde später setzte ich mich an die Tasten und schrieb drauflos. Der Text eröffnete dann vier Jahre danach mein »Theater in Deutschland«, fast tausend Seiten, die sich fortsetzten und deren Ende noch nicht abzusehen war, als es RUMS machte. Da war ich sicher, der dritte Band könnte noch fertig werden. 1
Das eben erhielt mich froh, zufrieden, ich gehörte nicht zu denen, die nach dem Ausscheiden aus dem Beruf in ein Loch fallen und ihre Ehefrauen mit ihrer Langeweile quälen. Bei uns war es eher umgekehrt. Als meine Frau, die unvergessbare Margret, mit 67 aufhören musste, jungen Menschen in der Schule gutes Deutsch und richtiges Englisch beizubringen, dankte sie mir eines Tages, dass ich sie beschäftigte, aus den inzwischen in Breslau aufgefundenen Kerr-Briefen ein druckfertiges Manuskript zu tippen. 2
Ich muss einhalten. Wenn man so unfreiwillig in einen Ruhestand getrieben wird wie ich eben, wachsen und wuchern in einem längst vergessene und verdrängte, auch vertriebene Kräuter und Unkräuter der Erinnerung wieder hoch. Die Zeit baut sich zurück, die man doch verlassen hatte.
Der Rums mit dem Auto war nicht das einzige Zeichen, dass es Zeit werde, in ein neues Lebensalter einzutreten. Sich einzugestehen, dass man doch inzwischen gealtert sei. Sich als alter Mann zu begreifen. Ruhe geben. Das Alleinsein stürzt über viele zusammen, erdrückend. Über Vereinsamte stürzt sich Einsamkeit. Wie viele Anrufe kommen jetzt: »Ich will nur deine Stimme hören« – Illusion des Zusammenseins. Anrufe sind die Verkehrsmittel des Alterns.
Was hier an Buchstaben so dahinfließt, ist auf gut Glück ertippt. Ich kann den Text nicht mehr lesen. Es wird sich jemand finden, der die falschen Buchstaben rauskehrt und das Passende zusammenführt. Damit sind wir am Punkt meines Alterns. Das Schwinden der Sehkraft ist wie ein Raub. Fort sind alles Gold und Silber. Wer füttert fortan dich – fortan? Jetzt?
Ich hoffe, gefüttert zu werden bleibt mir erspart. Damit beginnt der Verfall. Man ist außer Kraft gesetzt.
Mich rüttelt immer schmerzend die Vorstellung, dass Walter Jens, auch Joachim Kaiser, in ihrer Demenz gefüttert werden mussten. Das waren doch souveräne, autarke, selbstbewusste Menschen, wachen Geistes, belebenden Denkens, bannenden Sprechens. Außer Dienst Gestellte zu Lebzeiten, der hohe Geist verloschen, ohne den Körper mitzunehmen. Man ist dann wohl eine lebende Hülle.
Wenn man jetzt eine halbe Stunde vor dem Haus auf und ab geht, man sagt noch immer »Spaziergang«, obwohl es keiner ist. Drüben im Wald, ja; aber hier flaniert man auf der Sicherheitsroute vor den Häusern der Nachbarn, die einen noch freundlicher grüßen und immer dieselbe Frage stellen: »Wie geht’s?« – obwohl sie doch sehen, wie es einem geht, Schritt für Schritt, und mit Stock. Zweimal am Tag 1299 Schritte, das ist zweimal ums Karree. Vor einem halben Jahr hat man die Schritte noch gezählt – Zählen ist eine Einübung ins Altern –, jetzt weiß man, wie viele es sind bis zu dieser oder jener Ecke. Und wie viele bis zur Haustür.
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