Der rüffer&rub Sachbuchverlag wird vom Bundesamt
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Erste Auflage Herbst 2019
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Bildnachweis Umschlag: © Galina Peshkova | 123rf.com Bildnachweis Autorenporträt: © Tanja Gschwandl
Gedicht Seite 97: »Als ich in weißem Krankenzimmer der Charité«, aus: Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 15: Gedichte 5. © Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 1993.
Design E-Book: Clara Cendrós
ISBN Book: 978-3-906304-53-3
ISBN E-Book: 978-3-906304-60-1
Inhalt
Mitwirken – ein Plädoyer zur Einstimmung
I. Die neue Dramaturgie des Alterns:
zwischen Vitalitätsrekorden und Demenz, irdischer Fristerstreckung und metaphysischer Obdachlosigkeit
II. Was tun mit 25 geschenkten Jahren?
Permanent Urlaub? Sind wir Endverbraucher unserer Lebenschance oder Akteure einer Zukunft?
1. Carpe diem. Unterwegs im Unruhestand
2. Bis(s) zum Ende. Im Endlosigkeitstraum
3. Wirken. Akteur im eigenen Theater
4. Mitwirken. Mit reaktivierter Altersweisheit
III. Die Lizenz zu vertrotteln
Am Ende hilft, wenn überhaupt, Galgenhumor, vornehmer gesagt: ironische Einwilligung in die Endlichkeit
Anhang
Erwähnte und weiterführende Literatur
Biografie
Noch kürzlich nahm die Kurve des Alters nur eine Richtung: abwärts. Schrumpfen, Serbeln, Sterben. So ab 50 ging es bergab – mit der Karriere, der Gesundheit, der Lebensfreude. Heute zeichnen Glücksforscher unsere Lebenskurve in U-Form: Mit 70 sind wir so gut drauf wie mit 18, nur dazwischen hängen wir durch, mit Tiefpunkt um die 46. Die Logik dahinter: Mit 18 lädt das Leben zu all seinen Optionen, wir leben in der Möglichkeitsform. Danach legt uns die Realität nach und nach fest: privat, beruflich, in Lebensart wie Status. Mit 70 wird das Wünschen wieder frei.
Befreit vom Takt des Erwerbslebens haben die meisten von uns Zeit und Geld, können tun und lassen, wie es gefällt – Reisen, Zweitstudium, Jassen, Sport, Kino, Schlauchbootabenteuer, neue Liebe, Yoga, Safari, Grillparty. Und da wiederum die meisten der Arbeitswelt erstaunlich unbeschadet entkommen, auffällig frisch und vital ins Pensionsalter treten, denkt das schöne neue Alter an alles, bloß nicht ans Ende. 90 wird bald normal. Das macht dann 25 geschenkte Jahre. Rentenmathematiker sind darüber mäßig entzückt. Auch die Jungen rümpfen die Nase, sie werden unseren Spaß später wohl bezahlen. Dass die Rechnung nicht aufgeht, ist dutzendfach durchgerechnet – doch nicht einmal Mathematik hat eine Chance gegen unser Dinosauerierwunschprogramm. Das ist hier allerdings nicht das Thema.
Mich interessiert die sogenannte Sinnfrage hinter der Ökonomie: Was braucht ein Mensch, um seines Alters froh zu werden? Reisen, Erlebnisse sammeln, noch einmal in die kanadischen Wälder, alles prima. Wie Urlaub halt. Doch 25 Jahre Urlaub? Hält das ein Mensch aus? Kein Problem, dachten wir damals, eingespannt in die Arbeitswelt, wir träumten von großen Ferien, von der Sehnsucht, nicht länger in beruflichen Zweckwelten zu funktionieren, sondern Selbstzweck zu werden, selber Regie zu führen, nach unserer Manier glücklich zu werden.
Wie Reto Gschwend, der gibt sein Fahrradgeschäft auf, lese ich im Lokalblatt; über Jahrzehnte war er als Fahrradhändler tätig, mit Leib und Seele, heißt es, seine Kunden fühlten sich super beraten und bedient, als Radprofi war er eine Wucht. Nun, mit 61 Jahren, wolle er sich »auf sich selbst konzentrieren«, wolle »mehr Zeit für sich«. Moment. War Reto wirklich in seinem Element als Velohändler? Warum hört er denn jetzt auf? Wer hat ihm »mehr Zeit für sich« eingeredet? Eine Talk-Show? Der Zeitgeist persönlich? Irgendwann haben wir alle genug von der Mühle der Fünftagewoche. Doch eine interessante Arbeit aufgeben, um »sich auf sich selbst zu konzentrieren«: Was bringt denn so was? Dass ein Fahrradhändler mit 61 noch ein paar Jahre Postautos über die Alpen steuern möchte, sein geerbtes Haus im Jura für die ganze Familie umbauen oder auf Privatdetektiv umsatteln, das leuchtet ein, das klingt nach frischen Plänen, tönt wie das Gegenteil von »mehr Zeit für mich« – mehr Zeit für das, was ihn belebt: neue Interessen, neue Tätigkeiten, neue Leute.
Was wir »Sinn« nennen, ist nur ein Wort für den Fall, dass etwas prächtig aufgeht, dass wir uns so richtig belohnt, ja verwöhnt fühlen für das, was wir tun. Das passiert am ehesten, wenn wir kräftig mitwirken, wenn ich für mein Boccia-Team mit der letzten Kugel punkte, wenn wir eine Tischgesellschaft anregen, wenn wir mit Kindern den Wald durchstreifen. Dann fragt keiner nach Sinn und Wert des Lebens, dann ist der Augenblick erfüllt, weil sonnenklar ist: Ich bin nicht allein, nicht überflüssig, es braucht mich, ich spiele mit, ich bin keine Schachfigur neben dem Spielfeld.
Wirkt verdächtig einfach. Ist es vermutlich auch. Allein, wir Älteren kommen nur mühsam weg von alten Mustern. Unsere Vorfahren wollten, wenn sie nach Jahren der Plackerei noch lebten, ihre Ruhe haben, zu sich kommen, ihren Frieden machen mit sich und den Umständen. Jetzt reden wir von zusätzlichen 25 Jahren. Auch geben wir keine Ruhe, wir sind als »aktive Senioren« berüchtigt. Das schützt uns allerdings nicht davor, auf unseren letzten Runden zu vereinsamen, uns nur um uns selber zu drehen. Die heitersten Alten, die ich kenne, bringen mehr in Bewegung als sich: Vereine, Unternehmen, Enkel, junge Talente, Behinderte im Tixi-Taxi. Aus Vergnügen, nicht aus Pflicht. Weil die rastlose Jagd nach Erlebnissen leerläuft. Weil es ungleich befriedigender wirkt, an etwas mitzuwirken, das bedeutender ist als mein hinfälliges Ich.
Selbst habe ich das Glück, noch gebraucht zu werden, als Autor, als Redner. Bin ich demnächst nicht mehr gefragt, werde ich in der Schule der Gemeinde anklopfen: Habt ihr ein Dutzend Balkankids, mit denen ich Deutsch üben könnte oder Mathe? Es gibt kein Glück, sagt Arthur Schopenhauer, außer im Gebrauch seiner Kräfte. Welche Kräfte wir haben, spielt keine Rolle. Es kommt einzig darauf an, sie zu brauchen; solange die mitmachen, möglichst alle: Kopf. Herz. Hand.
Der Mensch ruht nicht in sich. Er ist keine Blume, kein Esel, kein Engel. Eher dynamisch dazwischen, halb Esel, halb Engel. Hin- und hergezogen, daher die ewige Unruhe, die Leidenschaft, die Langeweile, die Gier. Der Mensch hält es mit sich nicht aus. Er ist, so nennen es Philosophen, das exzentrische Wesen; er muss aus sich heraus, über sich hinweg, er ist nicht, er hat zu sein, er lebt davon, dass er etwas vorhat. Im Alter aber hat er immer weniger vor, seine Zukunft schrumpft, sein Leben wird zur Galgenfrist. Für dieses Dilemma – dass der Mensch auf Zukunft angelegt ist, das Alter aber kaum mehr Zukunft hat – gibt es nur eine Lösung: Ich wirke an einer Zukunft mit, auch wenn die nicht mehr meine sein wird. An einer Zukunft, die mich überdauern wird, der Zukunft der Familie, der Gemeinde, der Bienen, der Traditionen, der Biodiversität, der Poesie – an der Zukunft unserer Menschenwelt.
Davon handelt dieses Plädoyer: für ein Alter, das noch etwas vorhat. Kapitel I sondiert das Terrain. Zwei traditionelle Konditionen verschwinden: die Kürze des Lebens und eine Perspektive danach. Stattdessen: Langlebigkeit und Übererwartung ans Diesseits. Altern dauert, neu als Endstation. Kapitel II diskutiert die Folgen: Was fangen wir klugerweise an mit so vielen Jahren, damit unser Alter nicht nur angenehme »Lebensqualität« hat, sondern auch Inhalt, dass es um etwas geht, dass wir eine Bedeutung haben, eine Rolle spielen? Vier Varianten bringe ich ins Spiel: Unterwegs sein, solange es geht; an der eigenen Endlosigkeit basteln; nützlich werden in der Seniorenprovinz; mitwirken in der Welt der Jüngeren. Meine Favoriten: Wirken, Mitwirken! 25 Jahre Passivmitgliedschaft sind eine bescheuerte Perspektive – für uns selbst, für die Gesellschaft. Irgendwann, nach dem sogenannten Dritten Alter, hört der Spaß sowieso auf, dann beginnt das Vierte Alter mit chronischen Krankheiten und Gebrechen, mit Verwirrung und Niedergeschlagenheit. Kapitel III lädt abschließend ein zu Galgenhumor: zu ironischer Einwilligung in die Endlichkeit.
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