„Ich habe Ihnen nichts Neues zu sagen.“
„Wieder nichts? Also was wissen wir noch? Nur um Ihnen Ihre Lage klar zu machen: Sie hatten eine intime Beziehung zu einem Geheimnisträger, dem späteren Kindsvater. Sie haben sich vierzehn Monate vor seinem Hochverrat kennengelernt. Hochverrat begangen mittels Republikflucht, in der Folge zu unterstellender Geheimnisverrat. Sie behaupten nach wie vor, davon keine Kenntnis gehabt zu haben. Sie behaupten weiter, dass es nach seinem Hochverrat keinerlei Kontaktaufnahme gegeben hat. Nicht von Ihrer Seite, nicht von seiner. Ausnahme: Seine sogenannten Abschiedsbriefe …“ Er brüllte: „Ja glauben Sie denn, wir hier sind blöd? Glauben Sie, eine solche Finte verfängt? Ein derart abgekartetes Spiel? Der kleinste Hinweis nur … Und glauben Sie mir mal das eine, wir haben noch immer alles gefunden. Und dann sind Sie weg, für den Rest ihres Lebens … Und der Bengel findet endlich ein ordentliches Elternhaus.“
Atemlos von der Wut … vom Poltern … die vielen, lauten Worte vom Gerede über Mutter … Der Junge sah ein müdes Drohen gegen sich. Verschnaufen … ein tiefes Luftholen … ein lächelnder Riese plötzlich … In seinen Ohren brummte das Ungeheuer friedlich wie ein vollgefressener Bär: „Das Einzige, was Ihnen noch helfen kann, ist Ehrlichkeit. Wir erwarten endlich Ihre Kooperation.“ Ein Grinsen, so zuvorkommend wie dreckig.
„Und ich erwarte, dass wir endlich in Ruhe gelassen werden. Ich bin müde, jede Woche hierher zu kommen. Als wenn Sie den persönlichen Beweis brauchen, dass wir noch hier sind. Sie wissen doch alles, was wir tun, bevor wir es angefangen haben. Wohin wir gehen. Wen wir treffen. Welche Briefe uns erreichen, vor allem aber, welche nicht. Wie lange wollen Sie Ihre Zeit noch verschwenden? Und was soll der Junge denken? Was ist, wenn er zehn wird? Wollen Sie uns dann immer noch herbestellen? Oder mit vierzehn, wenn er Jugendweihe feiert und einen Eid auf dieses Land schwören soll? Mit achtzehn, wenn er erwachsen ist? Ich frage mich wirklich, wie aus ihm ein ordentlicher Staatsbürger werden soll, wenn er den Staat Woche für Woche in derartigem Misstrauen erlebt, bei aller berechtigten Sorge um dessen Sicherheit. Haben Sie sich nur ein einziges Mal gefragt, wie er selbst, unter solchen Umständen, Vertrauen gewinnen kann?“
„Das Schicksal des Einzelnen, über das ich nicht zu entscheiden habe.“
„Das glaube ich sogar. Aber Sie sind es, der unsere Akte in den Händen hält. Sie tragen dort, jeden Montag, Ihre Einschätzung ein. Aber vielleicht liegt Ihnen ja an unseren Treffen?! Vielleicht sind wir hier, weil sie Gefallen an dieser Art Wochenauftakt gefunden haben. Was ich aber wirklich glaube, ist, dass wir Ihr letzter Strohhalm sind. Dieses Ritual, Woche für Woche, hat mich überzeugt, dass Sie überhaupt nichts wissen, keine Spur. Sie sind ratlos und fragen sich verzweifelt, wohin er abgetaucht ist. Zu wem. Mit was im Gepäck. Wenn es stimmt, was Sie behaupten, wenn er wirklich einer von Ihnen war, dann weiß er doch, wie es geht. Vor allem weiß er, wie es nicht geht. Wer hat ihn denn ausgebildet, im Glauben, dass er kein Dummkopf ist?“
Die Pranken in der Akte, ein ratsuchendes Blättern, der verbrauchte Druck verbrauchter Varianten – ein leergeschleckter Honigtopf. Die Lust am Nektar und die Frage, wie an ihn noch zu kommen sei. Stummer Hunger … gierige Gedanken … Aus dem Maul tropfte es speichelnass: Ein neuer Plan. … Gestraffte Schultern … die Brust hebt sich … der Wanst spannt jeden Silberknopf … er sagt – und der Junge schaute in ein teigiges Lächeln: „Gut. Nach so langer Zeit haben Sie uns möglicherweise überzeugt.“
Meine Mutter kannte nur diese Hälfte der Wahrheit …
„Toffeln vom Fritz“, hatte ich geschrien und zog fest an ihrer Hand. Ich zog ohne Wirkung, einzig meine Füße rutschten zu ihr hin. Sie kniete sich herunter, lachte laut und nahm mich in den Arm, bevor ich fiel. „Aber das heißt doch Pommes Frites.“
Es hatte geschneit. Ein rutschiger Flaum lag auf den Platten. In weißen Spitzen gipfelte das Grünspandach, Adventstupfer auf St. Nikolai. Die Welt hatte sich geschmückt während der Andacht. Unsere Lieder hatten ihr gefallen, wie ich dachte, so wie die sanften Worte des Pfarrers. Sie lag in einem Wolkenkleid.
„Du hast gefragt, was ich essen möchte.“ Füßestampfend mein Beharren.
„Ich lache doch nur, weil du recht hast. Bei Uhle gibt es Toffeln vom Alten Fritz. Und ich trinke ein Glas Sekt.“
Ein Knirschen im Schnee von St. Nikolai her. Ein Gesicht über ihrer Schulter. Ein dunkles Oval unter den Ecken eines Hutes, das Himmelgrau dahinter. Eine aufgescheuchte Krähe, ein Krächzen quergezogen. Ein Zupfen an meinem Ohr und ein Blinzeln: „Morgen ist Montag. Aber wir bleiben morgen früh zu Hause.“
Das Grau über ihr, der Schnee im Himmel, der Fleck vor der Wolkendecke: „Ein schöner Adventsgottesdienst.“ Eine Stimme wie ein H-Moll wischte über den Nachklang der fröhlichen Messe. „Finden Sie nicht?“
Meine Pudelmütze geradegeschoben, meinen Pony unter den Rand gestrichen, ein Streicheln meiner Wange. „Sie haben recht. Sehr schön.“
Der Schnee, ein Kleben wie nasser Lehm, ein bappendes Weiß an den Füßen, grau und wässrig die Abdrücke meiner Sohlen. Der tropfnasse Himmel über St. Nikolai, das Grau um den Turm, im Geäst der Bäume, die Wolken einer Zigarette davor. Die Krempen des Hutes, ein umwehtes Dreieck, in der Glut sein Gesicht, das erste Mal: „Da freut man sich auf den nächsten Sonntag. Und dann ist schon wieder Weihnachten.“
„Sie sind neu in der Gemeinde?“
„Vor kurzem zugereist.“ Die Hände wie im Zweifel offen. „Eine kleine Stelle im Museum.“
„Ein Kunstexperte?“
„Nur ein kleiner Restaurator. Ich bringe den Glanz auf die Bilder zurück, in den Andere sich gerne stellen.“
„So wenig ist das nicht. Aber was wollen Sie?“
Zwei schwarze Flächen wie stehende Schatten, ein großer, ein noch größerer, er und St. Nikolai. Eine Wolke noch und eine lässig geschnippte Zigarette. „Ihnen noch einen schönen Advent wünschen. Ich hoffe Sie nächsten Sonntag hier zu treffen.“ Die Hand am Hut, am Dreiecksgipfel, für ein Nicken kurz gehoben, für die kleine Verbeugung auf ein Wiedersehen: „Wenn ich neben Ihnen sitzen dürfte? Ich würde mich freuen … wenn das nicht zu aufdringlich ist?“
Wortlos hoben sich ihre Schultern. Wortlos war sein Blick auf mich. Ein Lächeln im Ansatz. Schon war der Hut davor, über die Stirn auf den Kopf geschoben. Knirschen. Feste Schritte im nassen Schnee. Eine graue Spur, die sich entfernte.
Allein mit dem Kind, zwei Plätze auf den Sonntag, für die junge Mutter im Gang vor der Küche am letzten Tisch hinten. Mittagsdunst im Sog blasierter Pinguine, hager oder Schmerbauch, ein Gezwänge durch die Flügeltür, ein Jonglieren wie im Zirkus, gedunsene Gesichter über schweren Tellern. Witterung in den Nüstern, Dampfkringel um die Nasenspitze, stolze Schritte nach jedem lauten Tritt. Ein Äugen von oben sobald die Tür aufschlägt, ein zurückgeworfener Kopf wie am Eingang schon, wie vom Oberpinguin hinter schwerem Butzenglas. Eine Fehlhaltung wie ein Berufsschaden … Die Frau mit dem Jungen an der Hand, in der anderen die Klinke, ihr Ziehen auf verschneiten Stufen, ohne jede Hilfe. Mollige Hitze, eingewobener Bratenduft, Wolken frittierter Kartoffeln, ein Gesicht im Spalt: „Sie werden platziert …“
Der Rückweg von den Tischen, in geduckter Eile, die Frackschöße wehen, militärmarschzackig wedelt der leere Arm. Der andere ist angewinkelt, eine Serviette fest vor den Bauch gepresst. Ein vaterloser Junge, eine junge Mutter, die Gier kaum verhohlener Blicke. Geile Gedanken, die den Weg verkürzen, den Leerlauf in die Küche zurück, zur Wiederaufnahme der eigenen Wichtigkeit …
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