1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Kein Mangel auf den Tellern. Herr Betriebsdirektor gibt sich und seiner Gattin die Ehre. Sein Parteisekretär in Winkweite am besseren Tisch. Er sitzt abseits, er sitzt oberhalb, sein Platz ist auf der Empore. Seine mit den Sonntagen wechselnden Prasser beim fünften Uhlesekt vor dem Essen kennt man nicht. Herr Direktor kennt aber den Seufzer seines Sekretärs beim Anblick der vollen Teller, beim Gedanken an die hier nie gesehene Frau, alleingelassen bei Kohlrübensuppe zuhaus'. Und er kennt das dümmliche Lächeln ihm gegenüber. Seine brave Gattin, die Unterarme auf dem Tisch, die wippende Dauerwelle auf den Schultern, sein stolzer Pudel. Er sieht das stumm geformte Guten Appetit gegen die Empore, die knallroten Lippen für seinen Sekretär. Peinlich verzerrte Striche. Und er meint ein Wuff zu hören, so grotesk wie verstrickt, dass er sich abwenden muss, dass er ihr zuliebe die freien Tische zu zählen beginnt, während er ihre Klugheit lobt. Oder er zählt die Aschenbecher mit den blechgebogenen Bügeln. Er liest dreimal RESERVIERT , gestanzt in die Bögen. Er fragt sich, ob sie kommen werden, die grauen Eminenzen der Stadt, die Millionäre ohne Geld, die heimlichen Herren von Handel und Wandel. Er hört ein Lachen des Sekretärs, als sehe dieser den Gedanken. Ein lautes Prösterchen beim sechsten Uhlesekt … Adolf Theissen, Fliesenlegemeister, den Herr Direktor beim Gedanken an seinen Hausbau zu treffen hofft. Hannes Jacob, fertig liegt das Blech für den Metzgertresen. Guido Assmann, der Fuhrpark ist geplündert, ein Lada in Teilen für den Fuchs. Alles ist bereitet für die allseits bekannten Könige des Mangels, die immer ihren Tisch bekommen. Wann kommen sie? Schneit es noch? Ist die Kirche aus? Hat der Sekretär genug getrunken? Dass er nicht mehr sieht, als einen kumpelhaften Plausch?
Süßes Preiselbeeraroma, der Rehbraten dampft, das Tier aus Mecklenburger Forsten, die kleine Charge für den erlauchten Kreis. Gut ausgeblutet, kein Gedanke an das Land dabei, eine rote Spur im Schnee, irgendwer ist immer auf der Jagd. Der größere Teil hängt reiflich ab, Kühlwaggons gen Westen, mürbe wird alles mit der Zeit. „Vortreffliche Qualität.“ Der Kellner nickt sich rückwärts weg und wünscht „Einen guten Appetit“. Er eilt schon wieder den Gang entlang, ein leeres Tellertaxi, von der Klingel gerufen, die ungeduldige Wiederholung im Ohr, die Küche im Blick, eine Beiläufigkeit im Mund: „Wir hätten noch Kartoffelkroketten.“ Die Mutter sagt zu dem Jungen, der zappelnd seine Pommes Frites erwartet: „Mit Bratensoße auch sehr lecker.“ Enttäuscht zieht er seine Hand unter ihrer weg.
Kalter Duft dünstet aus den Polstern. Hitziger Dunst duftet aus der Küche. Kroketten knistern in schäumendem Öl. Kräuselnde Fahnen, wabernde Wolken, blaue Luft kriecht durch alle Ritzen, dunkle Schwaden schwappen aus der Küchentür, der Junge erschrickt bei jedem Tritt. „Die Hausmarke, bitteschön.“ Das zweite Glas Sekt. Ihr fehlt der Hunger, hat sie gesagt. Sie ist aufgeregt, oder hat nicht das Geld. Sie stößt an, ein Prost gegen seine Brause, er sei ihr kleiner Kavalier an diesem Tag.
Ketchup und ein schmieriges Grinsen zu den hingeknallten Kroketten. Dampfkringel in Nasenhöhe, verwehte Spitzen, Duft über dem Tellerrand. Die Sauciere kommt mit dem nächsten Lauf, mit einem Bitteschön , einem Guten Hunger, Kleiner , und einem Diener zu viel. Ein Schmeichler gegen die junge Mutter, jetzt ist Zeit, Sättigung im Saal, ranzig klebende Blicke.
„Wer war das vor der Kirche?“
„Möchtest du Ketchup auf den Teller?“
„Kanntest du den Mann?“
„Du kannst die Kroketten auch in die Soße stippen.“
„Ich fand ihn unheimlich.“
„Aber pass' auf, die sind sehr heiß.“
„Kommt der nächste Woche wieder?“
„Iss jetzt! Sonst wird es kalt.“
„Ich will nachher eine Schneeballschlacht machen.“
„Gegen wen?“
„Gegen meine Mama.“
„Wir können heute alles machen.“
Er nahm eine Krokette mit den Fingern, um sie in die Soße zu tauchen. Er merkte nicht, wie heiß sie war, auch nicht, dass seine Mutter ihm eine Gabel über den Tisch geschoben hatte. Er bemerkte eine Veränderung, aber nichts Offensichtliches, nichts, das ihm erklärlich war. Und erst, als er sie länger ansah, brach ein Lächeln durch ihre Vorsicht, still aber fest, als hätte sie sich dazu entschlossen. Wie eine Ewigkeit kam es ihm vor, wie ein Bild, das er betrachtete, während er merkte, dass ihm selbst das Lächeln misslang. Es war sein Unvermögen jeden Sonntag, wie ein Fernsehprogramm vorherbestimmt der Ablauf, der Versuch der Freude, die er erst mit diesem Sonntag sah. Die Last seiner frühen Kindheit, die ihr durch irgendetwas genommen schien.
Mir liegt so viel an diesem durch planmäßigen Verrat im Beginn schon zerstörten Moment.
UNGARN. Nach einer weiteren, unser Urlaubsland verkündenden Ausweiskontrolle, hinter Nové Zámky, sprühte die tiefstehende Sonne Funken durch wucherndes Buschwerk. Unter ihr zog, in helles Orange getaucht, noch immer diese nie gesehene Weite vorüber, eine staubige Trostlosigkeit aus verbranntem Grün, von ausgedörrten Feldern, erdbraun darniederliegendem Mais. Ich schwieg, denn manchmal wuchs doch etwas, wie zum Trotz oder mir zur Hoffnung, liebevoll gehegt, hausnah auf kleinsten Flächen. Und es waren ja gut zwei Stunden noch bis Budapest, und der Bahndamm näherte sich bald den Wassern der Donau, breit und hoffnungsvoll stimmend.
SCHWERIN. Ich erinnere mich nicht an die Stunde davor, nicht an das Danach, nicht an den Tag, der in keiner Jahreszeit lag, der kein Wetter hatte, kein Licht, das mir in Erinnerung blieb, keinen Anfang, kein Ende, keinen Ablauf, nur an diesen wie ein plötzliches Standbild mit Überbelichtung in die Hornhaut gebrannten Augenblick. Ich weiß nichts mehr von meinem Hinkommen, nichts davon, was ich trug oder bei mir hatte, nichts, das mir Aufschluss geben könnte. Und im eigentlichen Sinn hat meine Erinnerung auch kein Bild von meinem Dortsein. Ich weiß nur, dass ich fror in seiner Nähe.
Ich erinnere mich an ein Schneeweiß, dass sich spiegelte oder wiederfand, als hätte ich selbst daringestanden. An die Eislandschaft, ein klirrender Winter. An den Wanderer zwischen zwei toten Bäumen auf einen Stock gestützt, vor Kälte krumm, in dem ich mich sah. An seinen sichtbaren Zweifel beim Ausblick von der Höhe über die Stümpfe eines abgeholzten Hains, über vereiste Wellen hinweg. Kein Ziel lockt am Horizont, nirgends ein warmes Licht, nur frostige Leere und das Drohen des schwarzen Himmels. Der Schneesturm bricht los … Oder sind es nur die Risse des alten Öls? Verloren steht er zwischen beiden noch nicht verfeuerten Bäumen. Krumm wie sie. Wie gefroren oder wie in die Landschaft gewachsen, schmächtig und kaum höher als jeder tote Stumpf. Vom Kommenden erzählt letztendlich die Wahl der den Bäumen gleichen Farben.
Er steht … Ein Noch in Öl. Ein aus der Zeit genommener Moment. Ein stetes Kippen in den nächsten Augenblick. Ich blinzelte im Fortlauf furchtbarer Erwartungen … Eine erzählte Sekunde, aus der die Phantasie sich Geschichten log, mit jeder nächsten in Varianten eine andere. Die Wahrheit folgte, wie auf Anfang gesetzt, mit jedem Blinzeln neu von vorn: Er steht immer noch … Wie seit den Jahrzehnten, die ich ihn kenne, wie seit zweihundert Jahren schon, wie alle kommenden Milliarden Sekunden.
„Hallo … Nicht träumen!" Seine Hand fuhr wie ein Scheibenwischer durch Eis und Schnee. Meine Geschichten verschwammen wie hinter Schlieren. Das Bild dagegen eindeutig und klar. Kein Davor, kein Danach. Es war da als ein für immer aus der Zeit herausgeschnittener Augenblick. „Mit Galle kommt der Firnis weg." Er fuhr mit der Hand auf meinen Bildern umher, tippte Punkte in die Luft, zog Striche und Kreise. „Wir kitten die Risse zwischen den Erhebungen zu. Und unser Maler retuschiert die Stellen mit sorgsam abgemischtem Aquarell."
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