Dennerlein schmunzelte. »Sie denken an einen Irren, der mit Schaum vor dem Mund durch den Wald läuft und wahllos Naturfreunde ermordet? Nein, für solche Szenarien fehlt es mir entschieden an Fantasie. Wer immer den armen Julius erschlagen hat, hatte sicher einen Grund dafür – zumindest in seinen eigenen Augen. Inzwischen weiß ich, dass Julius als Politiker sehr dezidierte Ansichten vertreten hat. Damit macht man sich notgedrungen Feinde.«
Der Kernkraftbefürworter Dennerlein schien zu wissen, wovon er sprach.
Kastner nippte an seinem Wein. Er schmeckte muffig, mit Randaromen von Schwefelwasserstoff und getragenen Socken; im Abgang erschloss er dem Gaumen ein Potpourri schwebender Nuancen, die Kastner an seine letzte Beziehungskrise erinnerten: Kurz vor der Abfahrt in die Osterferien hatte Mirjam ihn gebeten, den verstopften Siphon der Küchenspüle zu reinigen. Er war diesem Ansinnen ebenso klaglos wie willig nachgekommen, hatte aber vergessen, einen Eimer unter den Abfluss zu stellen, ehe er die verschlungenen Plastikrohre mit roher Gewalt voneinander getrennt hatte …
»Ein guter Tropfen, nicht wahr?«, lächelte Dennerlein. »Hervorragender Jahrgang, in einem Eichenfass gereift, und alles bio. Den fränkischen Weinbauern kommt der Klimawandel entgegen, das muss man auch mal sagen dürfen. Volle Sonne und steiniger Boden – das ist dem Wein gerade recht. Man muss natürlich die richtigen Rebsorten anbauen …«
»Um noch einmal auf Julius Imthal zu kommen«, unterbrach Kastner den vinophilen Redeschwall des Seniors. »Wenn der Mörder kein persönliches, sondern ein politisches Motiv gehabt hat, dann sind Ihre Kurskollegen als Verdächtige doch wieder im Rennen!«
Dennerlein schüttelte den Kopf. »Das scheint mir weit hergeholt – meine Kurskollegen sind allesamt ganz harmlose junge Leute. Wollen Sie sie kennenlernen? Wir können uns zu ihnen hinübersetzen.«
*
Mirjam und die Kinder kamen gegen achtzehn Uhr an. Kastner saß inmitten der Kräuterfreunde und hatte es aufgegeben, die von Dennerlein bestellten Schoppen zu zählen – die Gaststube war in eine spiralnebelförmige Drehbewegung geraten, die an den Rändern zunehmend unscharf wurde. Er war froh, oben und unten noch grob voneinander unterscheiden zu können und in dem massiven Wirtshaustisch einen Verbündeten gegen den Mahlstrom der Erdanziehung gefunden zu haben.
»Prost!«, sagte Dennerlein und hob sein Weinglas.
»Porst!«, erwiderte Kastner und bemühte sich, eines der beiden Gläser zu treffen, die der doppelte Schnauzbart ihm zweihändig hinhielt.
»Ich heiße Hermann«, sagte Dennerlein und tätschelte ihm vertraulich die Schulter.
»Kastner«, gab Kastner zurück.
»Kastner? Das ist ja wohl kein Vorname.«
»Dasisrichtich«, bestätigte Kastner. Er hatte den Eindruck, dass seine Stimme ein wenig verschwommen klang, und fügte deshalb etwas lauter an: »Stimmtgenau.«
»Was ist denn hier los?«, fragte jemand aus dem Off und fuhr, ohne das geringste Interesse an einer Auskunft erkennen zu lassen, fort: »Ich hab in den letzten Stunden gefühlte hundert Mal deine Handynummer gewählt, Kastner, ich hab dir dreimal auf die Mailbox gequatscht, dreimal!, und dich inständig gebeten, uns am Bahnhof in Hohenstadt abzuholen. Es schüttet in Strömen, falls dir das entgangen ist! Die Kinder sind klatschnass! Wenn du schon dein Handy ausschaltest, warum hörst du dann nicht wenigstens deine verdammte Mailbox ab?!«
Kastner versuchte den Kopf zu drehen, aber einer seiner Nackenwirbel schien sich versteift zu haben.
»Bisudas, Hase?«, erkundigte er sich über die Schulter. Die Antwort waren ein kühler Luftzug und das Knallen einer Tür.
»Eine Frau mit Temperament«, schmunzelte Hermann.
Das konnte Kastner bestätigen.
Tag 3/Mittwoch/Blondinen bevorzugt
Am nächsten Morgen schreckte Kastner aus dem Schlaf, weil die Glocken des Kölner Doms schlugen. Alle Glocken: acht im Hauptgeläut und drei im Chorgeläut, inklusive Nachhall und Dopplereffekt. Sonderbarerweise litt der Mollterz-Schlagton der Pretiosa im Hauptgeläut an einer leichten Spreizung der Quarten und einem zwischen Unteroktave und Prime verengten Oktavintervall …
Er blinzelte und stellte fest, dass er sich keineswegs im Glockenstuhl des Kölner Doms, sondern im Grünen Schwan in Eschenbach befand und dass die Glockentöne von einem Mobiltelefon erzeugt wurden.
Zunächst war er erleichtert – das Handy konnte ihn nicht meinen. Es wäre ihm im Traum nicht eingefallen, das Vollgeläut des Kölner Doms als Klingelton auszuwählen und auf höchste Lautstärke einzustellen – sein Handy machte, wenn es sich nicht vermeiden ließ, mit einem sonoren Brummen knapp oberhalb der Hörschwelle und sanftem Vibrieren auf sich aufmerksam.
Dann fiel ihm ein, dass sein Mobiltelefon im Magen eines Killerwals gelandet war und Martina Götz ihm ein neues überreicht hatte – mit einem schönen Gruß von Carsten Wismeth. Womöglich pflegte der Polizeidirektor andere akustische Vorlieben als er selbst?
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.