Eine wichtige Rolle für die Entwicklung unseres Verhaltens kommt vom frühesten Kindesalter an den Spiegelneuronen zu: Jede Beobachtung, die wir bei unseren Mitmenschen machen, jede Geste eines anderen löst in unserem Gehirn Handlungsparallelen aus. Besagte Spiegelneuronen aktivieren die entsprechenden Zentren in unserem Gehirn so, als würden wir die Handlungen selbst ausführen. Immer wieder bewusst und auch unbewusst registrierte Handlungen können dadurch in das eigene Handlungsschema übernommen werden.
Spiegelneuronen tragen entscheidend dazu bei, dass vorgelebtes Verhalten erziehen kann, ohne viele Worte zu machen. Gerade bei AD(H)S-Kindern ist diese Art der Erziehung, die positive Vorbildwirkung, besonders wirksam (Spitzer).
Spiegelneuronen ermöglichen auch, dass wir uns über die Körpersprache der anderen in deren Empfinden hinein versetzen und schließlich ein Mitgefühl entwickeln können.
2.4 Hürden nehmen, Klippen meistern, Hilfe zur Selbsthilfe
Voraussetzung einer erfolgreichen Behandlung des AD(H)S ist zunächst immer eine sichere Diagnose und damit der Nachweis von dessen Kernsymptomen Hyperaktivität, Konzentrationsmangel, emotionale Steuerungsschwäche und beeinträchtigte Wahrnehmungsverarbeitung.
Für die Therapie bedeutet dies, die entsprechenden Defizite möglichst früh zu erkennen und gezielt zu beüben, am besten täglich mit Hilfe der Eltern, die, wenn erforderlich, durch professionelle Therapeuten einer sorgfältigen Anleitung bedürfen. Sollten sich dennoch keine Erfolge einstellen und ein Lernzuwachs ausbleiben, muss nach den Ursachen hierfür gesucht werden. Sind diese AD(H)S bedingt, sollte eine Erweiterung der Therapie durch Zugabe von Methylphenidat erwogen werden. Methylphenidat, ein Stimulans, beschleunigt die Nachreifung des Stirnhirns, wodurch intensives Üben dann erfolgreicher wird.
Übungen, um Lernen und Verhalten zu verbessern, können je nach Bedarf individuell zum täglichen Gebrauch zusammengestellt werden. Kinder und Studenten benutzen als Grundlage den von Schule oder im Studium geforderten Lernstoff, Erwachsene ihre Schwachstellen bei der täglichen Bewältigung der von ihnen erwarteten Leistungen.
Wie sich Lernen und Verhalten ab sofort verbessern lassen:
• Trainieren der Gedächtnisbahnen durch wiederholtes Lernen und Abfragen
• Sich immer wieder selbst motivieren, seine positiven Fähigkeiten einsetzen
• Anfangen können, Rituale, Struktur und Zeitplan einführen
• Dranbleiben, Angefangenes auch beenden
• Ordnung halten
• Störendes und Ablenkendes ausschalten
• Prioritäten setzen, sich nicht überlasten
• Kleine Päckchen lernen und wiederholen, den Arbeitsspeicher nicht überlasten
• Reizüberflutung, Stress und Erschöpfung vermeiden
• Pausen einlegen mit aktiver körperlicher Betätigung
• Fehlverhalten unterbrechen und korrigieren
• Gewünschtes Verhalten immer wieder üben und sich einprägen
Diese Schritte sind für jeden machbar, vorausgesetzt er will und hat sich noch nicht aufgegeben. Seine AD(H)S-Problematik zum Positiven verändern kann man in jedem Alter. Aber, je älter man wird, umso schwerer kann man die schon eingeschliffenen und automatisierten Gewohnheiten ändern, und desto schwieriger und langwieriger ist die Behandlung. Bei ausgeprägter Symptomatik ist eine Langzeittherapie mit Zugabe von Methylphenidat meist unumgänglich. Sie dauert immer über mehrere Jahre, manchmal auch Jahrzehnte. Je später der Behandlungsbeginn ist, umso mehr AD(H)S-bedingte Komorbiditäten, wie depressive Verstimmungen, Angst- und Zwangsstörungen, Selbstwertkrisen und Burnout, können die Behandlung zusätzlich erschweren.
Aber Menschen mit einem ADHS (also der hyperaktiven Form des ADS) haben viel Power, sie sind »Stehaufmännchen«, was ihre Behandlung erleichtert. Menschen mit einem ADS ohne Hyperaktivität sind viel schwieriger zu behandeln, sie sind schwerer zu motivieren und geben schneller auf. Sie neigen zum Rückzug mit Selbstwertkrisen und kurzen depressiven »Abstürzen«.
Wenn Sie als AD(H)S-Betroffene(r) den festen Willen haben, sich zu ändern, einen guten Therapeuten und einen guten Coach gefunden haben, dann ist vieles möglich.
Unser Gehirn ist in der Lage, lebenslang zu lernen, indem es seine Nervenbahnen umbaut, was mit zunehmendem Alter jedoch leider deutlich langsamer erfolgt und viel mehr Zeit und Anstrengung erfordert. Durch wiederholtes Einüben von Handlungsabläufen und ständiges Wiederholen von Lerninhalten kann auch ein AD(H)S’ler seine Verhaltensweisen und seine kognitiven Leistungen verbessern, vorausgesetzt, sein Gehirn ist noch umbaufähig, d. h. es dürfen keine hirnorganischen Erkrankungen wie Alzheimer, Demenz oder schwere psychiatrische Erkrankungen vorliegen. Noch so gute Medikamente als alleinige Therapie bringen auf Dauer wenig, wenn die Lernbahnen nicht durch ständiges Üben trainiert werden. Ihnen geht es dann ähnlich wie Muskeln, die sich durch Training verstärken, aber in langen Ruhezeiten schrumpfen. Auch störendes Verhalten kann mittels Training durch gewünschte Verhaltensweisen ersetzt werden. Je häufiger trainiert wird, umso besser automatisiert sich das gewünschte Verhalten, ähnlich dem Lernen eines Musikinstrumentes oder des Autofahrens.
2.5 Verhaltenstherapeutische Strategien zur Selbsthilfe
Der Verhaltenstherapie entlehnte Strategien zur Selbsthilfe kann jeder Betroffene auch ohne einen Therapeuten erfolgreich für sich anwenden. Es empfiehlt sich dabei folgende Vorgehensweise:
• Zu Beginn das störende Fehlverhalten mit dem Ziel beschreiben, es durch ein anderes und entsprechend gewünschtes Verhalten zu ersetzen
• Sich motivieren, Mut machen, an den Erfolg glauben und die dadurch bedingten und erwarteten Vorteile als Ziele formulieren
• Gewünschte Verhaltensweisen sich bildlich vorstellen, sein gutes visuelles Gedächtnis unterstützend einsetzen
• Beim Erreichen von Teilzielen sich loben und belohnen, das setzt Botenstoffe frei, die motivieren zum Weitermachen
• Eltern, Freunde oder Autoritätspersonen (Lehrer, Vorgesetzte) einbeziehen zur Unterstützung beim Lösen der sich selbst gestellten oder sozial erforderlichen Verhaltensänderung
• Mut haben, eigene Entscheidungen zu treffen, sich abgrenzen und nicht bevormunden lassen, »Nein« sagen lernen
• Wenn nötig, sich wehren und nicht einfach unterordnen
• Soziale Reize und Signale lernen, richtig zu deuten
• Die eigene soziale Wahrnehmung realitätsgerecht überprüfen und hinterfragen
• Selbstzweifel vermeiden, keine negativen Gedanken und Selbstabwertungen zulassen
• Blockierende Ängste mit Hilfe positiver Aktivitäten unterbrechen
• Immer wieder mit Selbstinstruktionen arbeiten
• Erfolge genießen und erhaltene Anerkennung registrieren
• Die eigenen Grenzen kennen und akzeptieren
Beispiele für Selbstinstruktionen, die jeder individuell für sich formulieren und nacheinander abarbeiten sollte:
• Ich muss mich jetzt konzentrieren
• Ich nehme mir Zeit, arbeite gründlich und trödele nicht
• Ich bleibe ganz ruhig, atme langsam und tief
• Ich höre und sehe genau hin
• Ich bin freundlich und lasse mich auf eine gemeinsame Tätigkeit ein
• Was ich begonnen habe, beende ich, bevor ich etwas Neues beginne
• Wenn etwas nicht gleich gelingt, bleibe ich ganz ruhig
• Ich denke gründlich nach, bevor ich reagiere
• Nicht ärgern, sondern es besser machen
• Wenn mich etwas stört, denke ich erst nach, bevor ich losschimpfe
• Ich verteidige meinen Standpunkt, aber angemessen
Solche Vorsätze sind ein wichtiger Bestandteil jedes multimodalen Therapieprogramms für AD(H)S. Bei schwerer AD(H)S-Problematik gilt es, möglichst schnell und vielschichtig zu behandeln, ehe die Betroffenen resignieren, d. h. auch mit Einsatz von Medikamenten. Hier sind Eltern und professionelle Therapeuten gefragt und als wichtiges Bindeglied zwischen beiden können die Selbsthilfegruppen fungieren.
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