2.1 Am Anfang der Therapie steht die Problemanalyse des Betroffenen
Die Behandlung des AD(H)S beginnt mit einer Problemanalyse, der Betroffene, seine Eltern und wenn erforderlich sein Therapeut besprechen danach gemeinsam die angestrebten Ziele. Daraufhin wird ein individueller Therapieplan formuliert, eingeteilt in kurz- und langfristig zu erreichende Ziele, wobei das Endziel als roter Faden für den Therapieverlauf fungiert. Dabei gilt es immer, die vorhandenen Ressourcen zu nutzen und gemachte positive Erfahrungen zu verstärken!
Das Positive am AD(H)S herausarbeiten, seine Diagnose soweit wie möglich positiv sehen, das ist nicht nur ein wichtiger Therapiebestandteil, sondern kann als Motor der Behandlung dienen.
Deshalb empfehle ich, am Anfang einer Therapie stets den Betroffenen aufzufordern, zunächst seine Probleme aufzuschreiben. Was stört ihn bzw. sie am meisten?
Abb. 2.1: »Was möchte ich ändern?« Beispiel einer Aufzeichnung, in der ein Junge zu Beginn seiner Therapie seine wichtigsten Probleme festgehalten hat.
2.2 Die neurobiologischen Ursachen des AD(H)S und deren Folgen
Die Ursache von ADS mit und ohne Hyperaktivität, deshalb AD(H)S genannt, ist eine genetisch bedingte, also angeborene veränderte Informationsverarbeitung mit Beeinträchtigung des Verhaltens, der kognitiven und motorischen Fähigkeiten sowie der Gefühlssteuerung. Neurobiologisch betrachtet, bestehen eine Unterfunktion im Stirnhirnbereich mit Reizfilterschwäche und ein Botenstoffmangel.
Abb. 2.2: Der neurobiologische Hintergrund des AD(H)S: Mangel an den Botenstoffen Dopamin und Noradrenalin (schematische Darstellung)
Die Unterfunktion des Stirnhirns verursacht eine Reizüberflutung, dadurch wird ein viel zu fein verzweigtes Netz von Nervenbahnen angelegt, was wegen seiner vielen Nebenstrecken die Informationsweiterleitung verzögert. Das Abrufen von bereits abgespeicherten Informationen und Verhaltensweisen aus dem Langzeitgedächtnis erfolgt über diese Umwege. Dadurch wird die Entwicklung von wichtigen Lernbahnen beeinträchtigt. Hinzu kommt noch ein Mangel an Botenstoffen in den Verbindungsstellen der Gehirnnerven (Synapsen), die für die Informationsweiterleitung verantwortlich sind.
Beides kann zu folgenden AD(H)S-typischen Funktionsstörungen in den kognitiven und Verhaltensbereichen führen:
• Die Aufmerksamkeit, die Konzentration und die Arbeitsgeschwindigkeit für eine Tätigkeit können nicht konstant aufrecht gehalten werden
• Die Informationsverarbeitung erfolgt zu langsam, zu ungenau und zu oberflächlich
• Das Ausblendung unwichtiger Informationen gelingt nicht, deshalb besteht eine hohe Ablenkbarkeit
• Das Lernen ist viel anstrengender und der erwartete Erfolg bleibt oft aus
• Bereits abgespeichertes Wissen und Handlungsabläufe können nicht sofort und sicher abgerufen werden. Was zu Hause gekonnt wurde, gelingt nicht in der stressbesetzten Prüfungssituation
• Die Erfolglosigkeit demotiviert und macht hilflos
• Angemessen und schnell mit Worten oder Taten zu reagieren, gelingt nicht
• Denken und Handeln können nicht zukunftsorientiert ausgerichtet werden
• Sich zu entscheiden, fällt schwer
• Lernen und Verhalten können sich nur sehr schwer automatisieren
Die Wahrnehmung von Informationen erfolgt nur oberflächlich, weil das Gehirn mit Informationen überflutet wird und dadurch der Arbeitsspeicher überlastet ist. Viele Informationen gehen so verloren und werden nicht zum Langzeitgedächtnis weitergeleitet. Manches wird auch an anderer Stelle abgespeichert und ist schon deshalb nicht schnell genug abrufbar.
Weil die Lernbahnen nicht dick und stabil genug sind, können sich Lernen und Verhalten nicht automatisieren, dadurch wird beides für die Betroffenen anstrengender und zeitaufwendiger. Deshalb gelingt ihnen meist nicht, schnell und sozial angepasst zu regieren, sich schnell genug auf eine neue Situation einzustellen und kurzfristig Entscheidungen zu treffen. Auch motorische Handlungsabläufe, die Dosierung der Kraft und die Schrift können beeinträchtigt sein.
Abb. 2.3: Gehirnlängsschnitt mit Verlauf einiger Lernbahnen, die vom Arbeitsgedächtnis (Hippocampus) zum Langzeitgedächtnis führen (schematisch)
Vom Stirnhirn aufgenommene Informationen werden über den Balken zum Arbeitsgedächtnis (Hypokampus) geleitet. Dieser sortiert die Informationen und leitet sie über Nervenbahnen weiter in die entsprechenden Zentren des Langzeitgedächtnisses. Dort werden sie abgespeichert und können bei Bedarf wieder abgerufen werden. Je dichter die entsprechenden Nervenbahnen sind und über je mehr Nervenverbindungen (Synapsen) sie verfügen, umso schneller können Informationen weitergeleitet werden.
Abb. 2.4: Schematische Darstellung der neuronalen Vernetzung im Gehirn, ohne AD(H)S (links) und bei Vorliegen von AD(H)S (rechts).
Die Struktur der Vernetzung der Nervenbahnen ist entscheidend für die Lernfähigkeit. Links: das Makronetz mit normalen, dichten Lernbahnen, die eine schnelle Weiterleitung von Informationen und eine Automatisierung von Lernen und Handlungsabläufen ermöglichen. Rechts: beim AD(H)S die feinmaschige wabenartigen Mikrovernetzung der Nervenbahnen infolge von Reizüberflutung; Informationen werden auf Umwegen und Nebenstraßen weitergeleitet und sind nicht sofort abrufbar. (Spitzer 2002, Braus 2004)
Diese besondere Art der neuronalen Vernetzung verursacht eine genetisch bedingte Reifungsstörung des Stirnhirns, das für die folgenden Funktionen eine »Cheffunktion« ausübt. Das Stirnhirn
• blendet alle unwichtigen Informationen der Umgebung aus
• speichert Erfahrungen, mit deren Hilfe man Handlungsfolgen abschätzen kann
• ermöglicht, Prioritäten zu setzen
• hilft, Angefangenes zu beenden, Impulse zu steuern und zu unterdrücken
• hilft, abwarten zu können
• hilft, ein Mitgefühl zu entwickeln
Abb. 2.5: Darstellung einer Nervenverbindungsstelle (Synapse)
Über die Synapse leiten die Botenstoffe alle Informationen weiter. Bei AD(H)S herrscht dort ein Mangel an Botenstoffen. Dieser wird durch Stimulanziengabe verringert, wodurch sich die Weiterleitung der Informationen beschleunigt.
Für AD(H)S typisch ist ein Botenstoffmangel in den Verbindungsstellen der Nervenbahnen (Synapsen) als Folge einer genetisch bedingten Transporterstörung. Ein wichtiger Grund, warum bei AD(H)S das Lernen viel anstrengender ist und man immer, wenn Üben allein keinen Erfolg bringt, die Gabe von Stimulanzien erwägen sollte (Krause 2011).
2.3 Das AD(H)S-Gehirn lässt sich therapeutisch verändern
Trotz Beeinträchtigungen sollte sich niemand entmutigen lassen, an den Erfolg einer Therapie zu glauben. Eine positive Veränderung ist in jedem Fall in allen Altersgruppen möglich, vorausgesetzt die Betroffenen arbeiteten aktiv mit. Bleiben alle Anstrengen erfolglos, sollte man ein seit mehr als 50 Jahren erprobtes Medikament anwenden, das die Unterfunktion des Stirnhirns, die Reizüberflutung des Gehirns und den Botenstoffmangel weitgehend ausgleicht. Es wirkt umso besser, je intensiver dem Gehirn in Form von Selbstinstruktionen vermittelt wird, worauf es sich im Augenblick konzentrieren soll. Diese Selbstkommandos gemeinsam mit dem Medikament in richtiger Dosierung helfen, Reizüberflutung und Ablenkbarkeit zu verringern und die Konzentration zu verbessern Wiederholtes Üben aktiviert und festigt dann die entsprechenden Lernbahnen, was das Lernen erleichtert. Lernen und Verhaltensweisen können sich mit der Zeit automatisieren und werden dadurch besser abrufbar. Eine therapeutische Option, die von Betroffenen, die trotz massiver Anstrengung keine wesentliche und anhaltende Verbesserung ihrer AD(H)S-Problematik verspüren, unbedingt genutzt werden sollte. Medikamente, die auf der Substanz Methylphenidat basieren, sind heute feste Bestandteile eines wissenschaftlich fundierten Therapieprogramms für AD(H)S und verbessern nachweislich Funktion und Zusammenarbeit von wichtigen Gehirnabschnitten, die für Lernen und Verhalten und damit für die gesamte Entwicklung von entscheidender Bedeutung sind.
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