Andächtig traten die Touristen vor den Turmbau , vor dem auch die kurz zuvor noch reichlich verwirrte Frau stand. Während der letzten in unserer Gesellschaft verbrachten Minuten schien sie sich einigermaßen beruhigt zu haben. Anstatt uns von ihr aufscheuchen zu lassen, war es uns offenbar gelungen, sie einigermaßen zur Räson zu bringen. Beinahe gelassen wandte sie sich jetzt dem Familienvater zu und nannte ihn einen Märtyrer. Zumindest sprach sie dieses Wort aus und starrte den Mann, bei dem sie damit ein interessiertes Stirnrunzeln auslöste, an, vielleicht ja, weil Wanda und ich uns ihren vorangegangenen Warnungen gegenüber nicht im gewünschten Maße empfänglich gezeigt hatten. Das Wort Märtyrer hatte also nicht unbedingt etwas von einer Anschuldigung, eher von einem Hinweis darauf, wer sich ihrer Meinung nach hinter den technischen Problemen verstecke.
Bei Wanda und mir läuteten einmal mehr die Alarmglocken. Ich blickte zu Wanda hinüber, die entsetzt die drei Rucksäcke fixierte. Daran hatte ich, zu sehr damit beschäftigt, mich über die neuerliche Panikmache zu echauffieren, überhaupt noch nicht gedacht. Als Wandas Blick schließlich den meinen traf, meinte ich, ihr ansehen zu können, dass sie in einer Situation, wie diese eine zu werden versprach, zwar lieber mit jemandes anderen Blick kommuniziert hätte, mangels einer Alternative allerdings entschlossen war, mit dem meinen vorlieb zu nehmen. Ihre Courage bestärkte mich, obgleich mir mein Gefühl eher riet, die harmlosen Touristen von der verwirrten Frau, für die ich mich offenbar bereits verantwortlich fühlte, abzuschirmen. Wanda und ich würden, so viel stand fest, an ein und demselben Strang ziehen, unklar war bloß noch, welcher das sein sollte.
Emily, Tessa und Konrad war nicht entgangen, dass die Frau etwas zu dem Mann gesagt hatte. Erwartungsvoll blickten sie den Familienvater an. Nur Iggy hatte sich vollständig in das Gemälde vertieft. Er war bestrebt herauszufinden, ob mehr von dem Gewässer, auf dem er seine Laufbahn als Pirat beginnen wollte, zu sehen sein würde, sofern es ihm gelänge, in die Leinwand hinein und im Bildraum ums Eck zu schauen.
Da ich nun mal nicht über die Autorität verfügte, der verwirrten Frau den Mund zu verbieten – schließlich unterstand sie noch nicht einmal vorübergehend meiner Aufsicht –, nahm ich mir im Auftrag einer Beschwichtigung der allgemeinen Situation vor, den drei Touristen mit einer die Verwirrte nicht unbedingt herabwürdigenden, wohl aber über sämtliche Sprachen hinweg unmissverständlichen Geste zu verstehen zu geben, dass sie nicht ganz bei Trost sei. Die Kinder würde ich, wie um meinen Hinweis zu unterstreichen, demonstrativ von ihr entfernen. Iggy müsste zwar einmal mehr am Kragen gepackt und weggezerrt werden, ausgerechnet in einem störrischen Verhalten wie dem seinen schien mir allerdings ein Schlüssel dazu zu liegen, die gesamte Atmosphäre in die herbeigesehnte Alltäglichkeit zu überführen.
Ehe ich noch daran gehen konnte, die Aufmerksamkeit des Touristenpärchens auf mich zu lenken und mit der zu mir gewandten Handfläche ein paar Sekunden lang Wischbewegungen vor meinem Gesicht anzudeuten, stellte sich mir die Frage in den Weg, wann ich selbst eigentlich das letzte, das entscheidende Mal von der Hand eines Erwachsenen aus meinen Träumen gerissen worden war. Geschah das damals auch bloß, um die Glaubwürdigkeit dessen, was dieser Erwachsene einem anderen Erwachsenen zu signalisieren gedachte, zu unterstreichen? Würde ich, indem ich Iggy sinnbildlich aus dem Wasser fischen oder, noch sinnbildlicher, von einer Laufbahn als Seeräuber abhalten würde, meine Gesten zu einem Knäuel von Fäden verwickeln, an denen ein Heranwachsender – Iggy nämlich – wie eine Marionette zu hängen käme?
Zu meiner Überraschung antwortete der Tourist der verwirrten Frau – offenbar ohne deren Verwirrung zu bemerken – mit einem Kopfnicken, ähnlich dem von vorhin, in das auch seine Begleiterin prompt wieder einfiel. Während ich mich immer hoffnungsloser in die Stränge der von mir geplanten Manipulation verstrickte, zeigte der Mann auf den Durchgang in den angrenzenden Saal und gab, indem er die Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger mehrfach anhob und wieder sinken ließ, mit verblüffend eloquenten Bewegungen zu verstehen, dass er einen Ort ein paar Säle weiter meinte.
Anders als für Wanda, die, wie sich später herausstellen sollte, annahm, die drei wären vor einem Märtyrer geflüchtet, der ein paar Säle, von dem, in dem wir uns befanden, entfernt in Erscheinung getreten sei – was für ein absurder Gedanke! –, stand für mich außer Frage, dass eben dort, ziemlich weit weg, ein solcher entdeckt und festgesetzt worden sei, woraus sich auch erklärte, weshalb das Stockwerk nach wie vor abgeriegelt, jedoch weder unter Tränengas gesetzt noch von einer Abteilung Einsatzkräfte in voller Montur gestürmt worden sei. Während Wanda und ich also erneut aneinander vorbeischauten, rannten Emily, Konrad und Iggy – der seine Piratenkarriere zugunsten weiterer Berufsanregungen, die er sich jetzt, da er über den Blick dafür verfügte, von den Bildern in diesem Museum versprach, aus eigenen Stücken verschoben zu haben schien – in die Richtung, die der Tourist ausgerechnet der verwirrten Frau als Antwort auf ihr Gestammel gewiesen hatte. Tessa stapfte deutlich langsamer, jedoch entschieden unaufhaltsam hinterher, und einen Moment lang kam es mir so vor, als lege sie es diesmal darauf an, auf so viele Fugen wie möglich zu treten, als revanchiere sie sich damit für die Geduld, die es sie zuvor gekostet hatte, ihnen auszuweichen.
Obwohl Wanda und ich – das stand für mich fest – der Situation ein unterschiedliches Maß an Bedrohung beimaßen, kam es uns beiden wie eine denkbar schlechte Entscheidung vor, ausgerechnet dorthin aufzubrechen, wo es etwas gab, das, wie immer man es verstehen wollte, nicht gerade den Eindruck erweckte, der richtige Ort für Kinder und friedliebende Erwachsene zu sein. Die paar Momente, die wir für eine Reaktion benötigten und die den Kindern einen gewissen Vorsprung einräumten, lagen also meiner Meinung nach eher darin begründet, dass sowohl Wanda als auch ich, die ebenso spontan gestellte wie unausweichliche Frage, wessen Schuld das nun wieder sei, an uns abprallen und ohne großes Zutun dem jeweils anderen – ich Wanda und Wanda mir – zufallen lassen wollten, wobei jedoch keiner von uns beiden daran dachte, dabei mit Entschiedenheit vorzugehen. Ping-Pong-Schlägern vergleichbar, die einen Ball so lange zurück zum Gegner befördern, solange er wie zufällig genau auf ihre jeweilige Schlägerfläche trifft.
Schließlich aber heftete ich mich im Anschluss an einen in höchster Dringlichkeit ausgesandten Blick Richtung Wanda, den trotz allen Unverständnisses – über das nachher noch zu reden sein würde – akute Einigkeit geschärft hatte, den Kindern an die Fersen und spürte, wie Wanda in meinem Rücken, augenscheinlich von den gleichen Gefühlen geleitet, sich ebenfalls auf den Weg machte. Einen Saal weiter hatten wir Tessa zwar bereits überholt, Iggy und Konrad waren in unserem Blickfeld aufgetaucht – Iggy, der größere, drehte sich immer wieder um und lief ein paar Schritte lang rückwärts, als empfange er den langsameren Konrad mit offenen Armen –, Emily jedoch schien bereits den daran angrenzenden Saal erreicht zu haben.
Ein Gemäldezyklus, der offenbar den Jahreszeiten oder einzelnen Monaten gewidmet war, und von mir ungeachtet der sich womöglich zuspitzenden Gefahr im Vorbeilaufen aus dem Augenwinkel heraus betrachtet wurde, vervollständigte die sonderbare Stimmung, die sich aus einer Mischung aus Ausgelassenheit und Bedrohung zusammensetzte, wie das Bühnenbild einer komischen Oper. Auf eine solche, eine Choreographie der Merkwürdigkeit, war es wohl auch zurückzuführen, dass weder Wanda noch ich allzu laut nach den Kindern riefen. Im ersten Moment dachte ich, das habe etwas mit der Hemmung zu tun, in derart Ehrfurcht einflößenden Räumen zu brüllen, es kann jedoch auch sein, dass das an dem Bedürfnis lag, möglichst niemanden auf uns aufmerksam zu machen.
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