HANNO MILLESI
ROMAN
EDITION ATELIER WIEN
Ich bin einmal auf einen Schrank geklettert, nur um die Vertikale auszunutzen, und kann sagen, dass das unangenehme Gespräch, das ich zu führen hatte, von da ganz anders aussah.
(Robert Musil, Die Amsel)
»Ganz wie in alten Zeiten«, sagt das Zimmer.
»Ja? Nein?«
(Jean Rhys, Guten Morgen, Mitternacht)
Als ich mitten in der Nacht aufwache, denke ich, das könnte eine gute Gelegenheit sein, mir die Sterne anzusehen. Vom Schlafzimmerfenster aus geht das nicht, weil ein Parkhaus die Rückseite jenes Gebäudes, in dem sich meine Wohnung befindet, überragt und seine aufdringliche Beleuchtung meine Augen beim Blick nach oben blendet. Das Küchenfenster öffnet sich in einen Lichtschacht. Den Himmel sieht nur, wer den Blick steil nach oben richtet. Das oberste Segment des Küchenfensters, merke ich jetzt, ist so schmutzig, dass es nach andauernder Bewölkung aussieht. Man kommt da aber auch so schlecht hin, entschuldige ich meine Nachlässigkeit.
Das Vorzimmer verfügt über kein Fenster. Lediglich die Wohnungstür weist einen Einsatz aus geschliffenem Glas auf, der alles, was dahinter sichtbar ist, verschwommen wirken lässt; auch den ballonartigen Beleuchtungskörper im Stiegenhaus. Sein Umriss scheint von einer universellen Schmelze ergriffen, derzufolge sämtliche Objekte mitsamt dem Blick, der sie erfasst hat, ineinanderrinnen. Auf dem Klo sitzend, schaut man durch ein schmales Fenster auf Wilden Wein, dessen Auswüchse von der Dachterrasse ein Stockwerk weiter oben herunterhängen. Im Hintergrund der wuchernden Verzweigungen leuchtet etwas, das der Mond sein könnte, allerdings eher wie eine Lichtquelle wirkt, die die Üppigkeit der Bepflanzung hervorheben soll.
Im Arbeitszimmer gelingt mir endlich ein Blick auf ein Stückchen Himmel. Stern sehe ich keinen. Auch keinen Mond, aber der befindet sich ja vor dem Klofenster. Mein Blick und die Neugier, die diesen speist, werden von finsterer Unendlichkeit absorbiert. Sie macht gar kein Hehl daraus, dass sich die ungehinderte Sicht auf die prächtige Festtagsbeleuchtung des Kosmos mit urbanem Leben nicht vereinbaren lässt. Aus dieser Unvereinbarkeit hilft einem auch ein Schlupfloch wie vermeintliche Schlaflosigkeit nicht heraus.
Glücklicherweise gibt es in meinem Arbeitszimmer ein zweites Fenster gleich neben dem, bei dem es nicht geklappt hat. Tatsächlich erkenne ich über dem Gebäude am Ende der Straße ein Licht. Ein Stern, ein Planet, der Jupiter, der Mars? Das Licht bewegt sich und blinkt. Bald wird es aus meinem Gesichtsfeld verschwunden sein. Dem Lichtkörper mit den Augen folgend, lande ich unweigerlich wieder im Zimmer.
Da mir ein Blick auf die Sterne nicht vergönnt ist, beschließe ich, die Zeit zu nützen und meine frisch gewaschenen Socken zusammenzulegen. Mit beiden Händen hole ich sie aus der Plastikwanne wie von Bäumen gefallenes Laub und verteile sie auf dem Bett. Ein Durcheinander, das nicht einfach zu entwirren ist. Sämtliche Socken sind entweder dunkelblau, dunkelbraun oder schwarz und aus nahezu dem gleichen Material gefertigt. Mit jedem Paar, das sich aus dem chaotischen Haufen lösen lässt, wächst mein Überblick. Zuletzt liegen sieben ineinandergefaltete Klumpen vor mir in einer Zeile, als hätte ich einem losen Verband sich zum Verwechseln ähnlich sehender Rekruten befohlen, stramm zu stehen und sich zu umarmen. Auch meine Gedanken ließen sich während des Zuordnens einigermaßen schlichten. Die Milchstraße, sage ich und füge vier der sieben Sockenklumpen zu einem windschiefen Viereck. Das, stelle ich fest, ist der Große Wagen. Oder ist es der Große Bär?
Auf der Küchenablage entdecke ich eine tote Spinne. Sie liegt auf dem Rücken, und ihre abgeknickten acht Beine sind auf den Plafond gerichtet, als hätte sie bis zuletzt irgendetwas aus dieser Richtung erwartet. Ihr Anblick lässt mich an Mörder im Fernsehen denken. Mörder haben es mitunter eilig, Tote aus ihrer Wohnung verschwinden zu lassen, ehe Gesetzeshüter auf die Idee kommen, sich bei ihnen umzuschauen. Das Beiseiteschaffen der Leichen stellt sich in der Folge mitunter als schwieriger heraus, als es war, denjenigen oder diejenige vom Leben in den Tod zu befördern. Zumindest ist es mit einer Reihe von Handgriffen verbunden, die man sich einfacher vorgestellt hat, als die eigene Unbescholtenheit noch nicht auf dem Spiel stand. Wie viele Leichen, frage ich mich, liegen eigentlich sonst noch so bei mir herum?
Ich knie mich hin und suche den Küchenboden ab. Neben dem Mülleimer stoße ich auf einen Brotkäfer, mit dem es so plötzlich vorbei gewesen sein muss, dass ihm nicht einmal Zeit blieb, alle empfindlichen Körperteile unter seinem rotbraunen Panzer in Sicherheit zu bringen. Die feine Behaarung steht ihm zu Berge, als hätte er unmittelbar vor seinem Tod etwas Entsetzliches mitansehen müssen. Zudem finde ich unter dem Küchentisch jede Menge Füßchen, Fühlerchen und sonstige Fragmente, die allesamt einmal zu Insekten oder Spinnentieren gehört haben. Einem professionellen Ermittler reichen dieserart Spuren zweifellos, unabhängig davon, dass sich kein vollständiges Opfer daraus zusammensetzen lässt.
Im Kühlschrank liegt eine Sardine. Gemeinsam mit Walnüssen und Pfefferschoten schwimmt sie in einer Pfütze Pflanzenöl. Im Gegensatz zu dem Brotkäfer, den es inmitten seines alltäglichen Existenzkampfes erwischt haben dürfte, wurde die Sardine mit biologischen Mitteln konserviert und in der Kälte aufgebahrt wie die Ehefrau eines Pharaos.
Mein Blick wandert durch das Innere des Kühlschranks. Jede Kleinigkeit kann sich als wichtig erweisen, mein Leumund ihretwegen seine Glaubwürdigkeit einbüßen. Auf dem Boden der Gemüselade entdecke ich zwei tote Ameisen. Ich bin sicher, sie sind erfroren. Gemüse ist keines da. Theoretisch könnten sie also auch verhungert sein. Was die Ameisen betrifft, stellt die Todesart für mich keinerlei Rätsel dar, wohingegen ich im Fall der Sardine auf Spekulationen angewiesen bin. Wahrscheinlich ist sie im Schlepptau eines Hochseefischers in eine Konservendose geraten und da drin aus Einsamkeit oder vor Langeweile umgekommen.
Inzwischen bin ich ins Schlafzimmer vorgedrungen. Unter meinem Bett finde ich eine fette Stubenfliege. Sie scheint noch nicht lange tot zu sein. Ich kann das zwar nicht durch Handauflegen feststellen, nachdem ich sie eine Weile betrachtet habe, vernehme ich jedoch das Echo ihres letztendlich aussichtslosen Todeskampfes. Was mag sie unter meinem Bett gewollt haben? Hielt sie sich versteckt, lag sie auf der Lauer? Ich frage mich, ob ihre Anwesenheit meinen Schlaf beeinträchtigt hat und, falls ja, ob diese Beeinträchtigung stärker ausgefallen ist, als sie noch am Leben gewesen ist. Vielleicht hatte sie sich unter mein Bett verirrt und konnte hier unten nicht mehr starten, wie es Fliegen auch nicht gelingt, Fensterscheiben zu überwinden, begreifen sie doch ihr Vorhandensein nicht, sondern sehen lediglich, dass dahinter die Freiheit liegt.
Auf dem Weg zum Schrank trete ich beinahe auf den Körper eines Heimchens. Draufzutreten wäre nicht weiter schlimm gewesen, da es sich bei genauerer Untersuchung nur noch um das Gehäuse, die schalenartige Ummantelung seines Leibes handelt. Angehörigen eines Naturvolkes mag das etwas bedeuten, ich betrachte ein solches Überbleibsel rein wissenschaftlich. Naturvölker fragen sich vielleicht, ob der restliche Körper des Tieres in eine Form von Paradies eingegangen ist, in das auch gelangt, wer nicht lesen und schreiben kann. Ich stelle die Vermutung an, dass Angehörige dieser Spezies ihr Äußeres saisonal bedingt wechseln. Stimmen werden beide Theorien wohl nicht.
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