Schon bald nach der Gründung eines eigenen Haushalts empfand ich es als unumgänglich, über meine Finanzen Buch zu führen. Ich begann damit, sämtliche Ausgaben aufzuschreiben, zu kommentieren und mit dem entsprechenden Datum zu versehen. Erst anhand einer solchen Aufstellung fallen einem gewisse Unregelmäßigkeiten auf, und es wird ersichtlich, wo gespart und wo investiert werden sollte. Ähnlich eklatante Schwankungen begegneten mir erst wieder, als ich dazu überging, mein Körpergewicht zu notieren. Ich wiege morgens deutlich mehr als gegen Mittag und nachmittags wiederum weniger als abends. Gelegentlich stand ich nachts auf, um mich auch über diese Werte zu informieren, vergaß jedoch meist die Zahl oder schrieb sie irgendwohin und wusste am nächsten Morgen nicht mehr, wo das gewesen sein könnte. Im Gegensatz zu meinem finanziellen Gebaren stellte es sich, was meinen Körper betraf, als deutlich schwieriger heraus, ausgeglichene Werte zu erzielen. Zunächst legte ich einen Grenzwert fest, der keinesfalls überschritten werden durfte, um in der Folge den Abstand zwischen diesem und dem jeweils angezeigten Gewicht sukzessive schrumpfen zu lassen. Dabei halfen mir häufige Überprüfungen und die digitale Anzeige an meiner Waage, die unaufgeregter über den aktuellen Zustand informiert als jeglicher Zeiger, dem etwas von einem mahnenden Finger anhaftet.
Glaubwürdige Ausgeglichenheit kehrte jedoch erst in mein Leben ein, als ich begann, meine Körpergröße statt meiner Finanzen oder meines Gewichts zu vermerken. Ich bediene mich dazu einer uralten Methode, der gemäß ich vor der Zimmerwand Aufstellung nehme – zunächst in unmittelbarer Nähe eines Türstocks – und dort eine kleine Bleistiftmarkierung hinterlasse, wo mein Schädel den höchsten Punkt erreicht. Mittlerweile bin ich auf der Suche nach einer freien Wandstelle im Schlafzimmer angelangt. Unbeschriftet sind nur noch die Küche, der Abstellraum und die Toilette. Dann werde ich wieder im Vorzimmer angekommen sein. Je unübersehbarer ich mich meinem Ausgangspunkt nähere, desto häufiger grüble ich, ob zwischen dieser sich allmählich vervollständigenden Linie und dem, was der Volksmund Lebenslinie nennt, eine Verbindung besteht.
Während der Kaffee in der Tasse auskühlt, schraube ich bereits die Espressokanne auseinander, um ihre einzelnen Teile (Wasserbehälter, Filter, Aufsatz samt Deckel und Griff) abzuspülen. Der Kaffee wird erst getrunken, sobald sich die Kanne, in der er zubereitet wurde, wieder an ihrem Platz im Küchenschrank befindet.
Diesmal unterläuft mir bei den routinierten, vielleicht allzu routinierten Handgriffen eine Unachtsamkeit: Ich greife den noch heißen Aufsatz mit der bloßen Hand an, bevor ich ihn unters kalte Wasser gehalten habe, und muss ihn, den Griff unter Schmerzen lösend, in die Spüle fallen lassen. Ein Rest Kaffee, der sich noch darin befunden hat, gerät außer Kontrolle und landet an der weiß getünchten Wand, wo er binnen eines Augenblicks die Folgen meiner Unachtsamkeit sichtbar macht. Als ich meine Finger unter den Wasserhahn halte, um dem Schmerz keine Gelegenheit zu geben, sich in meinem Körper auszubreiten, muss ich zusehen, wie der Rest an Kaffee die chaotische Form eines Flecks annimmt, anstatt wie sonst vom Abfluss pflichtbewusst hinuntergeschluckt zu werden.
Zunächst fixiere ich diesen Fleck, als bestünde eine Möglichkeit, seine scheinbar unbekümmerte Formlosigkeit auf mich übergehen zu lassen. Schließlich wäre es an mir, angesichts meiner Ungeschicklichkeit die Fassung zu verlieren. Als ich bemerke, dass der Fleck in Bewegung gerät, erstarre ich oder verbleibe vielmehr in einer Starre, in die mich bereits der Schmerz und das kalte Wasser versetzt haben. Einzelne Strahlen, Spritzer, die von der Dynamik des Auftreffens an der Wand aus dem chaotischen Zentrum des Flecks getrieben wurden, senken sich. Rinnspuren brechen Richtung Küchenboden auf und ziehen Bahnen wie Tränen, die sich aus dem Einflussgebiet stark geschminkter Augen verabschieden, aber auch wie bunte Vektoren von Feuerwerkskörpern, denen im Anschluss an eine euphorische Kurve unmittelbar nach der Explosion die Energie ausgegangen ist.
Anstatt wütend zu werden und meine Unaufmerksamkeit zu verfluchen, begreife ich, dass ich es mit Malerei zu tun habe. Der Tagesablauf hat mir ein Bild beschert, ohne dass ich mich hingesetzt habe, um irgendetwas zu zeichnen oder auszuschneiden. Hier spricht die andere Seite zu mir, das, was ich ebenfalls bin, sofern meine Vorstellungskraft sich nicht damit begnügt, mich zu versorgen und mit einer Liste von Aufgaben auszustatten. Das dort gebiert mein Sein. Eine solche Spur hinterlässt, was ich so tue, wenn ich mich, aus einer Unachtsamkeit heraus, einmal nicht an die Regeln halte.
Sobald vor meinem Fenster die Dämmerung hereinbricht, gehen in den Häusern gegenüber die Lichter an. Plötzlich muss ich meine Arbeit unterbrechen. Mein Herz hat zu rasen begonnen, und ich befürchte, jeden Augenblick vom Schreibtischsessel zu kippen. Ginge es nach meinem Herzen, würde es aus meinem Brustkorb herausschießen und, einem batteriebetriebenen Kinderspielzeug nicht unähnlich, durch meine Wohnung rollen, hüpfen oder wabern wie eine Blase, in der winzige Lebewesen eingeschlossen sind, die keine Ahnung haben, in welche Richtung sie sich mitsamt der sie umschließenden Ummantelung bewegen. Ich sichere, was ich geschrieben habe, atme durch und entnehme dem Arzneischränkchen im Badezimmer eine Tablette. Ehe ich sie hinunterschlucke, nehme ich mir noch eine zweite heraus, da der Anfall einigermaßen heftig zu werden droht. Dann kehre ich an meinen Schreibtisch zurück. Hoffentlich wirken die Tabletten bald; und zwar in der von mir gewünschten Weise. Um ehrlich zu sein, habe ich nicht nachgesehen, gegen welche Beschwerden der Hersteller sie empfiehlt. Sie sind einfach da wie all die anderen, die sich im Laufe der Zeit in meinem Schränkchen angesammelt haben, und wurden – da bin ich sicher – ebenso fachmännisch getestet. Meine Herzraserei scheint mir eine günstige Gelegenheit, zumindest die eine oder andere einzunehmen. Mein Vorrat muss reduziert werden! Woanders mangelt es an der simpelsten medizinischen Versorgung, und ich soll mir zu schade sein, meinen wertvollen Organismus wissenschaftlich erprobten Medikamenten auszusetzen? Ich möchte nicht wissen, wie viele Tiere ihr Leben gelassen haben, damit ich keinerlei Unannehmlichkeiten haben muss.
Computer und Tastatur scheinen weiter weg als zuvor. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass ich an meinem Schreibtisch sitze. Die Hose gehört mir, ich erkenne sie wieder. Aber die Beine? Ich habe diese Hose während eines Wandertages im Wald gefunden. Oder war das meine Uhr? Meine Ohren? Im Moment geht es jedoch um mein Herz. Ich spüre es nicht mehr. Als ob es sich innerhalb meines Körpers in nichts aufgelöst hätte. Mir wird schlecht. Allerdings nicht bei dem Gedanken, mein Herz könnte den ihm zugewiesenen Platz verlassen haben, sondern weil sich eine Druckwelle von meinem Magen aus auf den Weg gemacht hat wie auf einem japanischen Holzschnitt. Ich muss mich übergeben, weigere mich jedoch, weil ich befürchte, unter dem, was aus mir herausdrängen würde, könnte sich auch mein Herz befinden. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, wo es sich herumtreibt, seit es gefühllos geworden ist. Jedenfalls presse ich meine Lippen aufeinander und halte mir zusätzlich die zur Faust geballte Hand vor den Mund. In meinem Kopf scheint etwas zu zerplatzen. Durch meine Nase verliere ich ein paar Tropfen einer beißenden Lösung. Ein flüssiger Dämon, sage ich mir, der aus mir ausfahren möchte und vorhat, einige der wichtigsten Einrichtungsgegenstände mitzunehmen. Ich muss trotz verschlossenen Mundes husten, und der erste Schwall peitscht wie verwunschene Gischt an meinen Unter- und Oberkiefer. Ich beiße die Zähne zusammen. Aus den Ohren entweicht Druckluft, als tauche in meinem Inneren ein ganzer Ozean auf. Ich muss jetzt erst einmal warten, bis sich alles in mir einigermaßen beruhigt hat. Dann kann ich darangehen, das Abwasser wieder dorthin zu leiten, wo es hergekommen ist. Ich schätze, meine Mundwinkel sind undicht, aber es ist der Wille, der zählt, die Entschlossenheit. Entschlossen hole ich zum Gegenangriff aus, um die Kloake wieder in den Abgrund zu versenken, in den sie gehört. Auf ihrem erzwungenen Rückweg trifft die verfluchte Ladung jedoch auf eine Gegenströmung, woraus ein Strudel entsteht, der dafür sorgt, dass das, was mir an Wahrnehmung geblieben ist, implodiert, sich also in mein Inneres hinein zurückzieht. In der Folge verfinstert sich mein Zustand, ich kippe vom Schreibtischsessel und verliere das Bewusstsein.
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