Barash riss nun allmählich der Geduldsfaden. In forderndem Ton sagte er: »Ich weiß nicht, ob Sie mich nicht verstanden haben?! Ich – muss – zur – Arbeit! Und zwar jetzt! Ich will losfahren! Sofort! Nicht in ein paar Minuten. Was soll denn das?«
Barash machte einen Schritt auf den Mann zu. In dem Moment öffnete sich die Tür. Der Ignorant verlor kein Wort, nicht mal für die Begrüßung, und wollte ins Haus.
Barash machte noch einen Satz nach vorne, um den Mann am Arm festzuhalten. »Sie bleiben schön hier!«, fuhr er ihn barsch an.
Alles ging verflixt schnell, Barash konnte nicht mehr ausweichen. Der Faustschlag traf ihn mitten ins Gesicht. Dann knallte die Tür zu.
♦
Mallorca
Joachim Seidel und sein Tauchpartner Manfred Tatzer tauchten nach links weg, um an dem für sie vorgesehenen Platz unter Wasser ihre heutigen Aufgaben zu erfüllen. Wie jeden Tag bestanden diese aus der Entnahme von Proben an unterschiedlichen Stellen des Riffs sowie aus der Beobachtung der Fischpopulation. Sinnvolle Arbeiten, keine Frage. Was es allerdings mit den Fragen auf sich hatte, die sie später, wenn sie wieder in der Station waren, beantworten mussten, blieb ihm ein Rätsel, wie so vieles hier. Fragen wie: »Beschreiben Sie Ihren Gefühlszustand bezogen auf die Zeiten, in denen Sie im Wasser arbeiten. Welche Gedanken gehen Ihnen dabei durch den Kopf? Was empfinden Sie für die Tier- und Pflanzenwelt, die zu schützen Sie mit den Untersuchungen helfen?«, und eine Menge anderer Schwachsinn.
Er selbst stellte sich eigentlich nur zwei Fragen: Was zum Geier das alles mit den Medikamenten und den Verhaltensregeln während der Landgänge zu tun hatte? Und warum Elektroden zur Messung diverser Vitaldaten und offensichtlich auch zur Aufzeichnung der Gehirnaktivität an seinem Körper angebracht waren? Wo es doch hier offensichtlich um Umweltforschung ging, nicht um Beobachtung eines Menschen unter für ihn unnatürlichen Bedingungen und Isolation? Letzteres würde für ihn Sinn machen, einer gewissen Logik folgen, wenngleich es nicht die Einnahme der Medikamente erklärte.
Vielleicht erfüllten die Probanden hier unten ja auch verschiedene Zwecke gleichzeitig? Vielleicht war es eine Kombination verschiedener Forschungen? Meeresbiologische, humanmedizinische und psychologische Tests? Der Punkt, dass sie jeweils viele Tage am Stück hier unten verweilten und sie dadurch psychisch und physisch in einer ungewöhnlichen und auch extremen Situation waren, musste auf jeden Fall eine Schlüsselrolle spielen. Warum sonst tauchte man nicht einfach drei oder vier Mal am Tag ab und lebte die restliche Zeit ganz normal an Land? Der reine Zeitgewinn durch die Tatsache, dass sie nonstop unter Wasser verweilten, konnte es nicht sein. Es mussten die widernatürlichen Bedingungen sein, um die es bei den Versuchen an den Probanden ging. Möglicherweise erforschte man die Auswirkungen des Stickstoffs auf Körper und Geist, die Folgen des Sättigungstauchens. Die meeresbiologischen Arbeiten hier unten stellten entweder reinen Zeitvertreib oder aber die Erfüllung diverser Aufträge aus gänzlich anderen wissenschaftlichen Bereichen dar. Vielleicht finanzierte man damit das Ganze auch nur.
Aber er würde den Zweck des Ganzen ohnehin nicht ergründen, mit seinen Fragen drehte er sich nur im Kreis. Er sollte es gut sein lassen und einfach seinen Job machen, das Geld absahnen, und gut war.
Joachim Seidel wollte die Zeit am Riff nun in vollen Zügen genießen. Früh genug musste er wieder zurück ins Habitat – sein Gefängnis – besser konzentrierte er sich nun auf die Zeit hier draußen. Nach ein paar Minuten jedoch schweiften seine Gedanken erneut ab. Er fragte sich, ob die anderen Probanden an ihrem Platz ähnliche Aufgaben erfüllten wie er oder ob sie etwas anderes taten. Eine der Regeln war, nur den eigenen Arbeitsplatz unter Wasser aufzusuchen, diesen auf direktem Weg vom Habitat aus anzutauchen und nach Erledigung der Aufgaben auf direktem Weg dorthin zurückzukehren. Nur in Notfällen durfte die Tauchstelle anderer Taucher aufgesucht werden.
Seidel wurde unruhig. Er wollte zu gerne wissen, ob sie alle auch während der Tauchgänge dasselbe tun mussten wie innerhalb der Station. Er nahm an, dass es so war. Im Habitat hatten alle Probanden dieselben Möglichkeiten zum Zeitvertreib, nahmen zumindest augenscheinlich dieselben Pillen und konnten auf dieselben Filme und Spiele zugreifen. Sie tranken und aßen sogar fast dasselbe, was die vielen Fragebögen zu Allergien und Unverträglichkeiten erklärte.
Seidels Neugier siegte. Zeit war genug, er würde so oder so bald zur Unterwasser-Füllstation tauchen, um den Atemgasvorrat zu erneuern. Genauso gut konnte er das gleich jetzt machen und dann beim Lostauchen versehentlich die falsche Richtung einschlagen. Was sollte diese Geheimniskrämerei?! Er zeigte seinem Tauchpartner an, dass er zu einer anderen Stelle tauchen würde. Tatzers Protest lief ins Leere. Kaum hatte sich Seidel in Bewegung gesetzt, musste Tatzer widerwillig folgen. Keinesfalls durfte man in ihrer Situation allein tauchen. Ein Ausfall des Atemreglers oder ein anderes gravierendes Problem, und für den Betroffenen würde es übel ausgehen. Das Habitat war fast zweihundert Meter entfernt, und ein Notaufstieg wäre keine Option, da der im Körpergewebe gelöste Stickstoff unkontrolliert ausperlen würde.
♦
Dennoch finden wir diese - mehr oder weniger - eingeschränkte Spiegelneuronen-Aktivität wahrscheinlich ständig um uns herum. Immer wieder hallte dieser Satz in Nataschas Kopf nach. Sollte sie die Reportage verstärkt von der wissenschaftlichen Seite aufziehen? Es wäre ein interessanter Ansatz. Zu fachlich durfte sie das Thema aber auch nicht aufbereiten – zumal sie selbst daran zweifelte, dass die gesellschaftlichen Veränderungen einzig durch biochemische Veränderungen im Gehirn zu erklären waren. Und selbst wenn – wo blieb eine Erklärung dafür, dass das Sozialverhalten der Menschen gerade so extrem abkühlte? Der verstärkte Medienkonsum konnte als Erklärung allein nicht herhalten. Sicher spielten viele Faktoren zusammen, diese zu betrachten und zu analysieren, würde eine gute Grundlage für die Artikel-Serie bilden. Sie war auf dem richtigen Weg, das spürte sie. Sie wusste aber, sie musste ihre Fühler auch in andere Richtungen ausstrecken. Vielleicht sollte sie das Thema sogar ausweiten? Von Verrohung hin zu Gewaltbereitschaft ließ sich möglicherweise eine Brücke schlagen. Irgendwie hing das alles zusammen. Biochemisch betrachtet war es vom Verlust der Empathie-Fähigkeit zur Gewaltbereitschaft offensichtlich nur ein schmaler Grat, ja: das eine war zwangsläufig eine Folge des anderen. Diesem Ansatz nachzugehen, würde sich lohnen.
Sie war gespannt, was der heutige Tag bringen würde. Zwei Stunden noch, dann würde sie mit einer renommierten Kollegin Stenzels zusammensitzen und hören, was sie zum Thema zu sagen hatte. Nataschas Erkundigungen nach zu urteilen, warf Dr. Paula Dannowitz Thesen in den Raum, die in Fachkreisen nicht selten kontrovers diskutiert wurden. Vielleicht brachte sie neue Impulse für die Reportage. Die nächsten beiden Fachleute, die Natascha interviewen wollte, lebten und praktizierten nicht in München, sondern in Hamburg und Köln. Natascha würde ihre Mitarbeiter auf sie ansetzen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie Lea lassen sollte, wenn sie die beiden Interviews selbst durchführen würde.
♦
Etwas über eine halbe Stunde später näherten sich Seidel und Tatzer dem Abschnitt, in dem seine lethargischen Kollegen eingeteilt waren. Wenn die bei allem so emotionslos waren wie in der Station, dann pennten die beiden wahrscheinlich auch unter Wasser.
Ein paar Meter vor sich erblickte Seidel dieselben Behälter, Laborutensilien und Messgeräte, die auch er und Tatzer am Riff bei sich hatten. Einige Labor-Röhrchen und Behälter waren bereits mit Proben und Entnahmen gefüllt. Ganz klar, die Jungs hatten denselben Arbeitsauftrag. Schön, dass diese Vollpfosten zumindest damit ein gutes Werk taten – sie halfen dabei, mehr herauszufinden über die Flora und Fauna am Riff oder um was auch immer es hier gehen mochte…
Читать дальше